Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Shara führen würde; aber andererseits hätte sie auch niemals gedacht, daß sie einen Nomadenhäuptling zum Bruder hatte.
Um diese Jahreszeit dauerte die Reise normalerweise nicht viel länger als zwei Wochen, doch sie reisten sehr lang, weil sie wegen der Tragbahre gezwungen waren, sich im Schrittempo zu bewegen. Wann immer sie sich einem Dorf näherten, hielten die Reiter an und Luma ritt voraus, um die Dorfbewohner auf ihre Ankunft vorzubereiten, damit sie beim Anblick der Nomaden nicht in panischer Angst davonliefen.
Nachts sank Kerus Fieber, und er war oft imstande, ein paar Worte zu sprechen oder sogar einige Bissen zu essen, aber nach fünf Tagen lag er gegen Mittag schon wieder im Fieberwahn. Wenn das Fieber anstieg, breitete sich eine unnatürliche Röte auf seinem Gesicht aus und in seinen Augen erschien ein wilder Ausdruck. Zuerst murmelte er unverständliche Worte vor sich hin, und bald darauf begann er zu rasen und sich heftig gegen unsichtbare Feinde zu wehren.
Die einzige Person, die ihn beruhigen konnte, wenn er tobte, war Keshna. Wenn sie ihm beschwichtigend die Hand auf die Stirn legte, hörte er auf, wie wild an seinem Verband zu zerren oder laut schreiend nach seinem Pferd und seinem Speer zu verlangen. Seit Keru so krank war, schien Keshna ein anderer Mensch geworden zu sein. So lange Luma zurückdenken konnte, hatte Keshna immer zuerst an sich selbst gedacht. Jetzt war sie ein Muster an Geduld. Von morgens bis abends ging sie neben der Tragbahre, um mit Keru zu sprechen, wenn er bei Bewußtsein war, und seine Hand zu halten, wenn das Fieber wieder stieg. Manchmal versuchten Urmnak und Chamnak sie dazu zu überreden, sich für eine Weile ablösen zu lassen, um auszuruhen, aber Keshna weigerte sich. Sie wollte jeden Moment, den sie haben konnte, mit Keru zusammensein. Sie konnte sehen, daß das Wundfieber ihn bei lebendigem Leibe verzehrte, und jeden Tag fiel es ihr schwerer, an der Hoffnung festzuhalten, daß er lange genug leben würde, um Shara wiederzusehen.
Sie waren etwa zehn Tage unterwegs, als sie an den Otter-Fluß kamen. Im Winter war der Otter nur ein Bach, doch um diese Jahreszeit war er durch die sommerlichen Regenfälle zu einem reißenden Strom angeschwollen. Die Frauen und Krieger hätten den Fluß wahrscheinlich an der Hauptfurt durchqueren können, doch Keru ans andere Ufer zu transportieren wäre ein großes Problem gewesen. Es sah ganz nach einem überaus geeigneten Ort zum Ertrinken aus, wie Keshna es formulierte.
Nach kurzer Beratung waren sie sich einig, daß sie eine andere, weniger gefährliche Stelle finden mußten, um über den Fluß zu gelangen. Da weder Keshna noch die Krieger bereit waren, Keru aus den Augen zu lassen, schlugen sie ihr Lager am Nordufer auf, und Luma ritt allein stromabwärts, um nach einer besseren Furt Ausschau zu halten. Andere Reisende hatten sich offenbar in demselben Dilemma befunden, denn weniger als hundert Schritte von der Furt entfernt gabelte sich der Hauptweg, und einer der beiden Pfade verlief direkt am Fluß entlang. Das Nordufer war bis zur Wasserlinie bewaldet. Luma erwartete, daß das Südufer ebenfalls vollständig mit Bäumen bewachsen sein würde, doch als sie nach einer Weile um eine Biegung ritt, sah sie, daß das Südufer teilweise gerodet und beflanzt war. Der Fluß verbreiterte sich an dieser Stelle noch mehr, und der Trampelpfad, der vom Hauptweg abzweigte, führte geradewegs ins Wasser und über eine mit einer dicken Kieselschicht bedeckte Furt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Furt lag ein kleines Dorf von Mutterleuten. Es schienen nicht mehr als drei oder höchstens vier Familien zu sein, die am Flußufer Langhäuser errichtet hatten und Rüben, Kichererbsen und Kohl anbauten. Es gab keinen Schutzwall um das Dorf herum und nicht einmal einen Ziegenzaun.
Luma watete durch den Fluß, um die Dorfbewohner zu warnen, daß die Zeiten, in denen ein ungeschütztes Dorf so weit nördlich überleben konnte, endgültig vorbei waren; doch sie hatte ihre Warnung kaum ausgesprochen, als sich die Dörfler für den Gefallen revanchierten. Zwei Tage zuvor, erzählten sie, sei ein Händler in ihr Dorf gekommen. Bevor er wieder aufgebrochen war, hatte er sie gewarnt, daß ein großes Nomadenüberfallkommando auf den Otter zustrebte. Die Krieger kämen aus dem Süden herauf und würden keinen Versuch unternehmen, sich zu verstecken. Sie würden wahrscheinlich geradewegs zur Hauptfurt reiten, doch die Dörfler hatten
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