Althalus
gab, dann war es da, und kein Schweigen konnte es aus der Welt schaffen.
Er setzte seinen Weg nach Norden fort. Es wurde zunehmend kälter, und die Ortschaften lagen immer weiter voneinander entfernt, bis es schließlich gar keine Ansiedlungen mehr zu geben schien und Althalus sich mehr oder weniger allein in der Wildnis des Nordens befand. Eines Abends, als er in seinem schlichten Lager über der letzten Glut seines Kochfeuers kauerte, seinen neuen Umhang fest um sich geschlungen, sah er etwas, das ihm unmissverständlich verriet, dass er seinem Ziel näher kam. In den Bergen im Osten senkte die Dunkelheit sich herab, doch im Norden, wo längst Nacht herrschte, brannte der Himmel.
Es erinnerte ihn sehr an einen Regenbogen, der dem Schöpfer entglitten war: vielfarbig, aber nicht gebogen wie er sein sollte, sondern ein schimmernder, pulsierender Vorhang, der am Nordhim mel waberte. Althalus war nicht sehr abergläubisch, aber zu sehen, wie der Himmel brennt, kann man nicht gerade mit einem Schulternzucken abtun.
Er änderte seine Pläne ein wenig. Ghend hatte vom Rand der Welt gesprochen, aber nicht erwähnt, dass der Himmel Feuer fing. Hier oben
gab es etwas, vor dem Ghend sich fürchtete, obwohl er wahrhaftig nicht so aussah, als könnte irgendetwas ihm so leicht Angst einjagen. Althalus beschloss seine Suche fortzusetzen. Immer hin ging es um Gold und, was noch wichtiger war, um die Möglichkeit, sein Pech loszuwerden, das ihn über ein Jahr lang hartnäckig verfolgt hatte. Doch dieses Feuer am Himmel schlug eine gewaltige Alarmglocke in seinem Kopf an. Jetzt hieß es genau aufzupassen, was um ihn herum vorging. Wenn sich hier zu viel Ungewöhnliches tat, würde er sich eine andere Aufgabe suchen -vielleicht drüben in Ansu oder im Süden auf den Ebenen von Plakand.
Kurz vor Sonnenaufgang am nächsten Morgen wurde er durch eine menschliche Stimme geweckt. Rasch rollte er sich unter seinem Umhang hervor und griff nach seinem Speer. Er hörte zwar nur eine Stimme, doch wer immer da sprach, schien sich mit je mandem zu unterhalten, stellte offenbar Fragen und lauschte Antworten.
Der Sprecher war ein krummer, klappriger, schmutzstarrender Greis, der sich mithilfe eines Stockes vorwärts schleppte. Sein Haar und der Bart waren weiß und verfilzt, und seine Kleidung aus Fetzen verrottenden Pelzes wurde von Sehnen und gezwirbelten Gedärmen zusammengehalten. Tiefe Furchen durchzogen sein verwit tertes Gesicht, und seine rotgeäderten tränenden Augen blickten wirr. Er gestikulierte beim Reden und warf immer wieder verängstigte Blicke zum farblosen Himmel.
Althalus entspannte sich. Dieser Mann stellte keine Bedrohung für ihn dar, und sein verwirrter Zustand war nicht ungewöhnlich für sehr alte Menschen, die den vorhergesehenen Zeitpunkt ihres Todes versäumt hatten. Gleiches konnte aber auch viel jüngeren Menschen geschehen. Manche behaupteten, diese Verirrten würden von Dämonen beeinflusst, doch Althalus zog seine eigene Er klärung vor: Verrückte waren nichts anderes als ganz normale Menschen, die bloß zu lange gelebt hatten und eben deshalb irre waren, weil sie immer noch umherstreiften, wo sie längst friedlich im Grab ruhen sollten. Das genügte wahrhaftig, jemanden um den Verstand zu bringen. Deshalb fingen diese Menschen an, zu Leuten -oder irgendetwas anderem - zu reden, die gar nicht da waren, oder sie s ahen Dinge, die niemand sonst zu sehen vermochte. Sie stellten im Grunde keine Gefahr für andere dar; deshalb kümmerte Althalus sich üblicherweise nicht um sie. Leute, die ihre Nase in Sachen steckten, die sie nichts angingen, erregten sich immer über Verrückte. Althalus jedoch war schon lange der Meinung, dass die meisten Menschen ohnehin verrückt waren, und darum behandelte er alle mehr oder weniger gleich.
»He, du dort«, rief er dem irren Greis zu. »Hab keine Angst, ich tue dir nichts.« »Wer ist da?« Der alte Mann packte seinen Stock mit beiden Händen und schwang ihn.
»Ich bin nur ein Wanderer und hab mich verirrt.«
Der Greis senkte den Stock. »Man trifft hier nicht viele Wanderer. Sie scheinen unseren Himmel nicht zu mögen.« »Mir ist der Himmel vergangene Nacht auch aufgefallen. Was geschieht da, und warum?«
»Der Himmel ist der Rand von allem«, erklärte der alte Mann. »Beim Feuervorhang am Firmament hört alles auf. Auf dieser Seite ist das Ganze vollendet - mit Bergen gefüllt und Bäumen und Vögeln und Käfern und Menschen und Tieren. Der Vorhang ist der Ort, wo
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