Althalus
das Nichts beginnt.«
»Das Nichts?«
»Es ist da draußen, Wanderer -das Nichts. Gott ist noch nicht dazu gekommen, dort etwas zu schaffen. Da ist nichts jenseits des Feuervorhangs, gar nichts.« »Dann habe ich mich doch nicht verirrt. Ich suche nämlich
nach dem Rand der Welt.«
»Wozu?«
»Ich will ihn sehen. Ich habe davon gehört, und jetzt möchte ich ihn mir anschauen.« »Da gibt es nichts anzuschauen.« »Hast du ihn je gesehen?« »Viele Male. Ich lebe hier, und der Rand der Welt ist gerade so
weit wie ich gehen kann, wenn ich nordwärts wandere.«
»Wie komme ich dorthin?«
Der Greis deutete mit seinem Stock nach Norden. »Wandere etwa einen halben Tag lang in diese Richtung weiter.«
»Ist der Rand leicht zu erkennen?«
»Du kannst ihn kaum verfehlen -jedenfalls solltest du es lieber nicht.« Der Verrückte kicherte. »Es ist ein Ort, wo du ganz vorsichtig
sein musst! Denn sobald du diesen Rand erreicht hast und einen falschen Schritt tust, wird deine Reise sehr viel länger dauern als nur einen halben Tag. Wenn du wirklich so versessen darauf bist, den Rand zu sehen, dann überquere diese Wiese und gehe über den Pass zwischen den beiden Bergen, die sich am Ende der Wiese erheben. Sobald du auf der Passhöhe anlangst, wirst du einen großen toten Baum sehen. Er steht genau am Rand der Welt. Weiter kommst du nicht -es sei denn, du kannst dir Flügel wachsen lassen.«
»Da ich schon so nahe bin, sollte ich mir den Rand auch anschauen.« »Das ist dir überlassen, Wanderer. Ich habe Besseres zu tun als herumzustehen und ins Nichts zu starren.«
»Mit wem hast du dich eigentlich gerade unterhalten?«
»Mit Gott. Ich und Gott, wir unterhalten uns die ganze Zeit.«
»Wirklich? Wenn du das nächste Mal mit ihm sprichst, dann grüß
ihn von mir.«
»Das werde ich -falls ich daran denke.« Mit diesen Worten schlurfte der schmutzige Greis weiter und setzte sein Gespräch mit der Leere um ihn herum fort.
Althalus kehrte zu seinem Lager zurück, packte seine Habe zusammen und machte sich auf den Weg durch die felsige Wiese auf die beiden niedrigen runden Berge zu, die der Greis ihm bezeichnet hatte. Die Sonne ging auf und erhob sich über die Schneegipfel von Kagwher, und die Kälte der Nacht schwand allmählich.
Die Kuppelberge waren mit dunklen Bäumen bewachsen, und ein schmaler Pass führte zwischen ihnen hindurch, wo der Boden von den Hufen des Rotwilds und der Büffel zertrampelt war. Althalus schritt vorsichtig voran und blieb immer wieder stehen, um die Wildfährte nach ungewöhnlichen Fuß-oder Hufabdrücken zu überprüfen. Hier war ein sehr ungewöhnlicher Ort, und es war durchaus möglich, dass hier ungewöhnliche Kreaturen lebten. Und ungewöhnliche Kreaturen hatten manchmal ungewöhnliche Fressgewohnheiten, darum hielt Althalus es für unbedingt erforderlich, sehr vorsichtig zu sein. Er ging weiter, blieb aber auch jetzt häufig stehen, um sich umzuschauen und zu lauschen. Doch die einzigen Laute, die er vernahm, waren das Zwitschern von Vögeln und das träge Summen einiger Insekten, die nach einer kalten Nacht eben erst erwacht waren.
Als er die Passhöhe erreicht hatte, blieb er lange Zeit stehen, um nach Norden zu blicken -nicht weil es in dieser Richtung etwas zu sehen gegeben hätte, sondern eben weil es nichts gab. Die Tierfährte führte hinunter durch ein schmales Grasstück auf den toten Baum zu, den der verrückte Greis erwähnt hatte; dann endete sie. Jenseits des Baumes gab es nichts. Keine fernen Berggipfel, keine Wolken. Nichts als Himmel.
Der tote Baum war knochenweiß und schien seine knorrigen Äste im stummen Gebet zum gleichmütigen Morgenhimmel zu erheben. Es hatte etwas Beängstigendes. Althalus, der noch unruhiger wurde, ging ganz langsam über das letzte Grasstück und blieb dabei häufig stehen, um die Blicke -und seinen Speer - nach hinten zu wenden. Bisher hatte er nichts Bedrohliches bemerkt, aber hier war ein sehr seltsamer Ort, und er wollte kein Risiko eingehen.
Als er den Baum erreichte, stützte er sich dagegen und beugte sich vorsichtig vor, um über den Rand des Abgrunds zu blicken.
Unter ihm gab es nichts als Wolken.
Althalus war schon oft in den Bergen gewesen und so manches Mal in Höhen oberhalb der Wolken; deshalb war es nicht ungewöhnlich für ihn, auf sie hinunter zu blicken. Diese Wolken jedoch erstreckten sich ohne jede Lücke nordwärts, und nirgends ragte ein Gipfel empor, so weit Althalus zu sehen vermochte. Hier endete die Welt;
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