Altherrensommer
Bürgersteig rankenpflanzenfrei und die Kompost-Tonne von innen trocken ist; wenn irgendwas »schnell warm gemacht« wurde und die beiden am Esstisch sitzen – dann könnten sie sich über solche kleinen Kränkungen unterhalten. Dass er sich von ihr manchmal »klein gemacht« fühlt. Obwohl, paradoxerweise, sie sich ihn »größer« wünscht. Großzügiger vor allem. Souveräner. Die beiden könnten jetzt große Substantive deklinieren: Würde, Respekt, Achtung. Das kostet Überwindung, klar. Denn derjenige, der so etwas einfordert, ist immer in der schwächeren Position. In der Rolle der beleidigten Leberwurst, die doch bitteschön mehr
»gewürdigt« werden möchte. Ach Du liebes bisschen. Vielleicht sollte man Würde, Respekt und Achtung gar nicht einfordern müssen, sondern sie vorher bereits geschenkt bekommen. »Zuvorkommend« im Wortsinn bzw. in dem Sinn, wie der kluge Ex-Rabbiner und frühchristliche Theologe Paulus aus Tarsus es empfohlen hat: »Einer achte den anderen höher als sich selbst und komme ihm ehrend zuvor«. 10
Wäre ein Gespräch darüber zu heikel? Ist die in Hochglanzmagazinen viel gepriesene »neue Entspanntheit im Ruhestand« bei vielen Paaren tatsächlich nur hauchdünnes Eis? Es existiert ein Unterschied zwischen »heilsamer Ehrlichkeit« und »schonungsloser Offenheit«. Ich mag das Wort »schonungslos« nicht, weil man Menschen mit wackligem Selbstwert nicht den Kopf waschen kann und wenn, dann nur im Schongang. Aber »ehrlich« werden miteinander muss ja nicht automatisch »verletzend« sein. Ein solches Gespräch könnte mit einer selbstkritischen Frage der beiden an sich selber beginnen: Glaube ich meinem Partner, was ich höre? Oder höre ich vom Partner nur, was ich glaube? – Bevor jemand in schlaflos verzweifelten Nächten daran denkt, eine Trennung vorzuschlagen, mag vielleicht ein nüchterner Blick auf Zahlen und Fakten hilfreich sein. Männer sterben zwar im Durchschnitt 7 Jahre früher als Frauen, aber die Sterberate von Witwern und Alleinlebenden ist fast doppelt so hoch wie die von gleichaltrigen verheirateten Männern. »Selbst eine unbefriedigende Ehe ist ein besserer Schutz gegen Depressionen als die Alterseinsamkeit«. 11
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JÜRGEN: PFANDRAISER UND PLATZHIRSCH
»Kannste nich meckan, wa?«, sagt der alte Mann und fingert zwei Literflaschen Cola aus dem Mülleimer. Rechts und links seines Fahrradlenkers baumeln bauchige ALDI-Tüten mit leeren Glas- und Plastikflaschen. Die Satteltaschen sind gestopft voll, die gespannten Schultergurte seines Rucksacks lassen vermuten, dass dieser schwer ist. Um den stoppelbärtigen Hals trägt der vielleicht Sechzigjährige eine schmale schwarze Halogen-Taschenlampe am Lederband, die Hände stecken in Arbeitshandschuhen. Auf dem blauen T-Shirt steht in Brusthöhe »I am a virgin«. Bei genauem Hinsehen entdecke ich darunter die kleingedruckte Zeile »This is a very old T-Shirt«. Er freut sich, als ich darüber lache.
Weiter hinten auf dem Bahnhofsvorplatz plötzlich heiseres Gegröle. Ich nehme es als Anlass zu der Frage, warum Fans des 1.FC Kaiserslautern die Fans von Mainz 05 hassen. Der Pfandmann zieht die Schultern hoch: »Wie Schalke und Dortmund ehm.« Und woher sein Berliner Akzent, hier, mitten in einer pfälzischen Großstadt? »Det verlierste nich.« Ob ich ihn beim Flaschensammeln ein paar Straßen weit begleiten darf, höchstens eine halbe Stunde? Da habe ich unsere kurz aufgeflammte Verbundenheit und sein Lächeln wohl etwas überstrapaziert: »Nee, ma bessa nich«, sagt er. Die heutige Tour sei eh zu Ende und, nee, Ärger gäbe es zwar nicht mehr, seit sie die guten Plätze aufgeteilt hätten, aber trotzdem – nee. »Wer ist ›sie‹?«, will ich wissen. Die, die Bahnsteige und Bahnhofsvorplätze, Bushaltestellen, Kioske und Sportplatzausgänge, Freibäder, Kaufhauspassagen und Fußgängerzonen untereinander aufgeteilt haben wie Erntefelder oder Jagdreviere? Er druckst unwirsch herum. Wenn ich seine Halbsätze richtig interpretiere, gibt
es »arme Schweine, die sonst nüscht ham«. Wohnsitzlose, vermute ich. Dann gibt es »Fabrescha«, die Bahnreisende anbetteln, wahllos überall Pfandflaschen sammeln und jedem Prügel androhen, der das gleiche tut. Und es gibt »janz Normale«. Ganz normale alte Menschen wie er eben. Wie normal ist es, auf diese Weise Geld verdienen zu müssen, frage ich mich. Aber da kneift er schon die Augen zusammen, als hätte er meine Gedanken erraten: »Obwohl, ick müsste ja nich, wa.«
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