Altherrensommer
unvernünftige Gefühle durch den Bauch: Würde? Meine Güte, was heißt schon Würde? Du hast Dich im Job so oft zum Affen gemacht, da kommt es auf diese Nummer zu Hause auch nicht mehr an. Du hast Zeit, Du bist da, es muss gemacht werden, also zick’ jetzt nicht rum und schluck’ Deinen Stolz. Du bist Rentner. Drüben im Stadtpark fragt ja auch keiner mehr, ob da ein pensionierter Generaldirektor oder ein pensionierter Pförtner die Enten füttert. Das Bauchgefühl aber sagt: Im Job wurde die Würde durch Geld geregelt. Fürs Laub fegen auf dem Hof warst Du einfach zu teuer. Und was Überwindung kostete, ließ man den Kunden was kosten. Wer alles macht, hat alles mit sich machen lassen ... Hin- und her schwankend zwischen Verstand und Gefühl, Einsicht in das Notwendige und Auflehnung gegen das Unangenehme, keimt in ihm ein heimlicher Wunsch: Dass jemand – am besten natürlich seine Beste – respektieren möge, wie viel Überwindung es ihn kostet. Dass sie nicht die erledigte Aufgabe an sich würdigen möge, sondern die Tatsache, dass diese Aufgabe bis vor kurzem noch tatsächlich »unter seiner Würde« gewesen wäre! Klingt kompliziert. Ist es auch. Und eitel ist es obendrein. Ist arg um die Ecke gedacht, wenn nicht gar lächerlich. Und deshalb beißt er sich eher die Zunge ab, als genau diesen Wunsch auszusprechen.
Noch verworrener werden die Fäden der kleinen Alltagsmissverständnisse, wenn sie aus dem Fenster schaut und ihren Mann mit der Blumenschere zwischen Bürgersteig und Rabatten herumkrabbeln sieht. Die umgedrehte Biotonne macht gerade eine Pfütze. Dass ihr seine Pensionierung
und der damit verbundene Status- und Rollenverlust nichts ausmache, hat sie ihm selbst, hat sie den Kindern, hat sie allen Verwandten und Freunden gegenüber oft beteuert. Nein, beim Gedanken an den Ruhestand mache sie sich ausschließlich Sorgen um ihn. Ihr persönlich, also ihr als Frau, mache sein Berufsende nichts aus. Schon deshalb nicht, weil sie ihn ja bereits ein halbes Leben lang »nur so, als Mensch« geliebt habe. Das ist auch ein bisschen gelogen. So ganz ohne Berufsbezeichnung und Amtstitel, nur noch selten in Anzug und Krawatte, nie mehr mit Laptoptasche über der Schulter zu ihr hinauf winkend und dann von diesem Bürgersteig mit dem Dienstwagen davonbrausend – also da ist er schon, nun ja wie soll man sagen, ein bisschen weniger geworden. Er macht jetzt ein bisschen weniger her. Nicht als Mensch natürlich, das nicht, aber als ... Mann. Es gibt viele Eigenschaften, für die sie ihn von Herzen liebt. Eine davon ist, dass er im Beruf geschätzt, belohnt und belobigt, manchmal sogar ein wenig bewundert wurde. Von Vorgesetzten, von Kollegen, von Kunden und Geschäftspartnern. Jetzt fällt ihr auf, dass möglicherweise sie die einzige ist, die seine Leistungen noch zu schätzen weiß, sie belohnen und belobigen könnte. Von den Kindern und einigen nahen Freunden einmal abgesehen. Sie hat seinen beruflichen Ärger zu Hause abgefedert, sie hat Misserfolge mit erlitten, sie hat Pflichttermine mit ertragen und berufliche Vorteile mit genossen. Wenn ihm der Chef anerkennend auf die Schulter klopfte und der Abteilungsleiter zum Geburtstag ein kleines Präsent überreichte, fehlte nie der Spruch »hinter jedem erfolgreichen Mann steckt eine starke Frau«. Eine ausgeleierte Binsenweisheit, sicher. Aber ein bisschen gefreut hatte es sie schon. Da ist es doch bitteschön nicht verwunderlich oder verboten,
dass sie auch ein kleines Stück ihres eigenen Ehrgeizes auf ihn übertragen hat? Mögen die Psychologen das »komplementären Narzissmus« nennen, so oft sie wollen.
Einen Rest »komplementären Narzissmus« gibt es übrigens auch bei ihm. Wenn er die Frage, wann und wie lange Freunde besucht oder eingeladen werden sollen, nach dem sozialen Prestige dieser Freunde priorisiert. Wenn also für berufstätige, wohlhabende, angesehene, einflussreiche Leute und sonstwie »vorzeigbare« Freunde mehr Zeit und Aufmerksamkeit eingeräumt wird als für die »bucklige Verwandtschaft«. Sie bemerkt eine solch unbewusste Rankingliste der Kontakte erst, wenn sie hört, wie ihr Mann Dritten gegenüber von diesen Kontakten erzählt. Bei Telefonaten z.B., die neuerdings ganztägig im Haus stattfinden und nicht mehr hinter geschlossenen Bürotüren. Wenn sie spürt oder zu spüren meint, dass da manchmal ein klein wenig Angeberei mitschwingt, wen er alles kennt und von wem er noch gekannt wird.
Wenn am Abend dieses Alltages der
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