Altherrensommer
landratsamtlichen Kontrollbefugnissen ist Jürgen erstaunlich gelassen. Lenkt das Geschehen mit Lässigkeit, erteilt Verbote stets mit Begründung, schaut den Angeredeten ins Gesicht. Es ist eine ruppige Freundlichkeit, nun gut, mehr lässt die Berliner Mentalität nicht zu. Aber Jürgen ist kein schikanöses Ekel. »Obwohl ick schon Damenbinden und tote Wellensittiche ausm jelben Sack jezogen hab, wat meenste.« Da geht mir ein zweites Licht auf: Auf diesem »Grünabfallsammelplatz und Wertstoffcontainerhof« hat ein Pfandflaschen sammelnder alter Mann mit winziger Rente für fünf Stunden pro Tag Macht über Menschen! Hier ist er buchstäblich der Platzhirsch, und er genießt das. Aber: Er beschimpft weder die dusselig rangierende Frau-am-Steuer noch lacht er über den feinen Pinkel, der umständlich Pflanzerde in einen Plastiksack wuchtet und sich dabei einsaut. Jürgen schüttelt den Kopf, Jürgen flucht leise, aber: Jürgen beschämt niemanden laut und von oben herab. Umgekehrt gibt es auch nur wenige, die im Gutsherrengestus aus ihren SUVs steigen und
den kleinen Quittungsbon über 2,50 € für 40 Liter Erde verächtlich zerknüllen, wenn Jürgen ihn ordnungsgemäß überreicht hat. Nein, manche Pfälzer begrüßen ihn aus dem offenen Autofenster, andere halten ein kurzes Schwätzchen mit ihm. Mag sein, weil sie wissen: Mit dem Vertreter des Abfallwirtschaftsbetriebs muss man sich gut stellen, sonst nimmt man die Hälfte der Ladung wieder mit. Es mag aber auch sein, dass hier für jeweils kurze Minuten etwas Menschenfreundlichkeit aufblitzt. Über vermeintliche und tatsächliche Gerechtigkeitslücken und über kleine und große soziale Ungleichheiten hinweg.
»Uffm Tüsch!«, sagt Jürgen und weist mir mit einer Kopfbewegung nach links hinten den Weg zu seiner Thermoskanne. »Betriebsraum« steht über der Tür zu der kleinen Holzhütte mit Stuhl, Tisch, Spind und Klo. Die Kanne ist offen, der Kaffee demnach kalt. Jürgens einzige Tasse wurde das letzte Mal gespült, als Kohl noch Kanzler war. Er kommt auf eine Zigarettenpause hinter mir her, weist aber schon meine ersten vorsichtigen Fragen nach seinen persönlichen Lebensumständen knurrig ab. Wo ist die Frau, gibt es Kinder, was war sein früherer Beruf? »Nee, lass ma.« Ob er sich, Hand aufs Herz, beim Flaschensammeln manchmal schämt und mich deshalb nicht mitnahm, damals, am Bahnhof? »Nee, wieso denn? Müsste ja nich. Is’n Zubrot.« Ob er mit dem Geld auskomme? »Für Essen und Wohnen reichtet. Für Klamotten von Kick oder Second Hand ooch.« »Und sonst?« »Wie, sonst?« Ich wüsste gern, ob er Freunde hat und was er mit denen wo und wie oft unternimmt. Ob er verreist, was er gern liest oder hört oder sieht. Ob er das hat, was Ursula von der Leyen »Teilnahme am kulturellen Leben der Gesellschaft« nennt. »GEZ
brauch ich nich’ zahln«, sagt Jürgen. Er hat die Befreiung von Rundfunkgebühren erfolgreich beantragt. »Und ahms zisch ick mir ne Molle.«
Da ist es. Das gängige Klischee vom Rentner in Altersarmut, der allabendlich biertrinkend vor der Glotze sitzt. Bloß: Dass Jürgen alle sonstigen Lebensmöglichkeiten offenbar nicht vermisst, ist kein Grund, sie ihm politisch vorzuenthalten. Freiheit ist die Freiheit der Wahlmöglichkeiten – und viele hat er nicht, sieht sie nicht oder will sie nicht. Gegen die finanziellen und sozialen Grenzen seines beengten Lebensraums kann er vulgär wettern. Er wird aber nie wirklich dagegen revoltieren. Die »sozialen Unruhen«, von denen im Umfeld der Partei »Die Linke« vor Jahren gefaselt wurde, finden nicht statt. Jemand wie Jürgen würde weder Autos abfackeln noch Häuser besetzen. Wenn er beim Pfandflaschensammeln an den erleuchteten Fensterfronten schicker Edelrestaurants vorbeigeht, drückt er nicht seine Nase an der Scheibe platt wie die verarmten Fischer von Balbek in Marcel Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Anders als sie denkt er auch nie daran, »dieses Aquarium einfach mal umzukippen«. Ob er wählen geht? Jürgen lacht kurz auf und drückt die Kippe aus: »Nee, höchstens Kommunalwahl. Wegem Landrat, vaschtehste.« Ich verstehe. Steht ja hinten auf seiner Weste drauf. »Oder wennse die scheiß Praxisgebühr kippen würden. Aba det macht ja keene Partei.«
Vor meinem geistigen Auge kehren die Trinkgelder, die Jürgen auf dem Müllabladeplatz zugesteckt bekommt, als 10,- €-Scheine wieder in jene Arztpraxen zurück, aus denen sie stammen. Und das Absurde:
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