Altherrensommer
Das scheinen ihm die anderen anzusehen. Dass er eigentlich nicht müsste. Seine braune Lederjacke über dem blauen T-Shirt, das 10-Gang-Fahrrad, die tadellosen Turnschuhe – vielleicht wird er bei seinen Streifzügen ja doch mal angepöbelt und will dann keinen Zuschauer bei sich haben, denke ich mir. »Sie müssten eigentlich gar nicht Flaschen sammeln?«, hake ich nach. »Nee. Bin ja so ne Art Rentna und jeh arbeeten.« Als er das gesagt hatte, wurde ich neugierig und ließ die Katze aus dem Sack. Dass ich gerade durch ein berüchtigtes Umsteigeloch im Fahrplan der Deutschen Bahn AG gefallen sei und nun 70 Minuten Aufenthalt hätte. Und dass ich für ein Buch über die Lage älterer Männer recherchiere und die Zeit gern nutzen würde. Er schüttelte den Kopf und winkte ab, war aber stehengeblieben. Wenn ich seinen Namen verfremden und die Stadt nicht nennen würde, dürfe ich ihn irgendwann einmal an seinem Arbeitsplatz besuchen, versprach er mir. Kramte ein halbwegs modernes Handy aus der Jacke und gab mir seine Nummer.
Dass es Rentner gibt, die reicher sind, als sie sich selbst fühlen, kann man im Reisebüro, im Autohaus und beim Notar feststellen: 80% aller Kreuzfahrten werden von Menschen ab 50 gebucht, 18 Milliarden Euro geben Rentner pro Jahr für
Reisen aus. Damit bestreiten sie fast 50% des jährlichen Gesamtumsatzes der deutschen Tourismusbranche. 80% aller Neuwagen werden von über-50jährigen gekauft. Und was an Grundstücken, Häusern, Eigentumswohnungen, Kunstwerken und sonstigen Sachwerten von den ganz Alten zu den jungen Alten wechselt, geht auf keine Kuhhaut. 12 Dass es Rentner gibt, die sich ärmer fühlen, als sie tatsächlich sind, sagen uns der »Sechste Altenbericht der Bundesregierung« vom Dezember 2010 und die »Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt vom 29. Juni 2011, Drucksache 17/3139«. »Arm« ist nach den Kriterien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, und nach den statistischen Erhebungen der Europäischen Union zu Einkommen und Lebensbedingungen, EU-SILC, jeder, der nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben finanziell weniger zur Verfügung hat als 60% des bedarfsgewichteten mittleren Einkommens seines Landes. »Armutsgefährdet« sind Einzelpersonen in Deutschland ab 929,- € abwärts und Paare ohne Kinder mit weniger als 1.172,- € monatlich.
Pi-mal-Daumen einen Tausender im Monat – den allerdings haben 15,5% der über-65-jährigen nicht . Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vermutete schon 2010, dass dieser Prozentsatz nach oben schnellen werde, weil die Durchschnittsrente bei Männern auf 800,- € und bei Frauen auf 700,- € sinken würde. 13 Entgegen anderslautenden Schreckensschlagzeilen muss hierzulande trotzdem niemand hungern und frieren: Mindestens 627,- €, meist 684,- € »Grundsicherung« gibt’s vom Staat auf jeden Fall, eine Art Hartz-IV-für-Rentner. Aber: 2010 nahmen nur 2,5% der über-65-jährigen diese Grundsicherung
in Anspruch! »97,5% aller Ruheständler haben eine ausreichende Versorgung!«, meinte deshalb Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen vollmundig. 14 Diese Behauptung ist allerhöchstens halb richtig, denn eine unbekannte Zahl von Menschen, die lebenslang in Niedriglohnjobs gearbeitet haben, bekommen aus ihren dürftigen Rentenbeiträgen kaum mehr Rente als jene 627,- €, die der Sozialstaat als Stütze garantiert. Dass er die garantiert, sollte man weder den Regierenden noch den Empfängern zum Vorwurf machen. Die Ungerechtigkeit, dass jemand, der gearbeitet hat, im Alter genauso arm dasteht wie jemand, der nicht arbeitete – die muss man dem Gesetzgeber zum Vorwurf machen. Frau von der Leyen will diese »Gerechtigkeitslücke« mit einer »Zuschussrente« bis zu 850,- € monatlich ausgleichen. Was wiederum nur dann finanzierbar sein dürfte, wenn die Zahl der »working Poor« in Niedriglohnjobs nicht weiter rasant steigt.
Jürgen hat im Moment mit ganz anderen Gerechtigkeitslücken zu tun. Ich finde ihn Monate später an einem Samstag punkt zehn Uhr in jenem planierten, zersiedelten Niemandsland, das weder Wohnviertel noch Dorf noch Landschaft ist. »Vor den Toren der Stadt« hieß das früher; heute als »Gewerbegebiet« ausgeschildert. Ein umzäuntes Areal von etwa 10.000 Quadratmetern, das offiziell der »Grünabfallsammelplatz und Wertstoffcontainerhof« ist. Das Navi frisst solche Ziele jedenfalls nicht.
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