Altherrensommer
Weder die SUV-Fahrer
noch der prekäre Patient haben was davon! Politisch lebt Jürgen eine Art pragmatische Apathie. Zynisch finde ich nicht ihn, sondern eine Sozialpolitik, die von Jobwunder und rundumversorgten Rentnern schwärmt. Dass rund 600.000 Rentner in Minijobs arbeiten, ist kein fröhlicher Ausdruck ihrer Vitalität. Über 7 Millionen Menschen in Deutschland leben in solchen und ähnlichen Verhältnissen. Nicht bettelarm, aber auch nicht abgesichert. Die Zahl der Leih- und Zeitarbeiter, Niedriglohnjobber, Praktikanten und Scheinselbstständigen hat seit 1996 um 53% zugenommen. 1,3 Millionen Erwerbstätige sind »Aufstocker«, müssen also Arbeitslosengeld II beziehen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Beklagen sie das – empfinden sie sich als »arm« und sagen es auch laut –, wird ihnen schnell vorgerechnet, dass das Leben auch für die Mittelschicht kein Zuckerschlecken und alles nur eine Frage der Kosten/Einkommen-Relation sei. Beklagen sie das nicht – wie Jürgen –, werden sie schnell als Beispiele gelungener Sozial- und Arbeitsmarktpolitik vereinnahmt. Also sagen sie am besten nichts.
Es mag für Politiker schwer sein, Armut zutreffend zu definieren, Sozialgesetze so zu formulieren und Transfergelder so zu steuern, dass den Richtigen geholfen wird. Es mag für Wohlhabende leicht sein, die Fähigkeit der Armen, sich mit ihrer Lage zu arrangieren, als Einverständnis oder Zufriedenheit zu missdeuten. Es müsste aber doch gerade den Kreuzfahrt- und Neuwagenkauf-Rentnern, den älteren Gutsituierten möglich sein, die soziale Isolation ärmerer Gleichaltriger zu durchbrechen. Einfach, weil sie tatsächlich mehr Zeit haben (als ein berufstätiger junger Vater z.B.), weil sie sich ehrenamtlich in Vereinen und
Gemeinden für Bedürftige und Benachteiligte einsetzen könnten, weil sie von ihrer Lebenserfahrung her geübter sind im Umgang mit Menschen, die »anders ticken« als sie selbst und – weil sie wissen müssten, wie bitter es ist und wie wütend es macht, aus den Augenwinkeln bemitleidet oder verachtet zu werden.
Zehn Minuten nach Ende der Öffnungszeit des Wertstoffhofes, als Jürgen ein paar säumige Pappe-Entsorger hinauskomplimentiert und das große Tor mit einem riesigen Vorhängeschloss von außen verriegelt hat, erzählt er mir dann doch etwas mehr. Nicht etwa von sich, aber von einem arbeitslosen Bekannten, der mit Ende 40 geschieden wurde, mit 53 abermals geheiratet hat und dessen zwei Stiefsöhne, die seine Frau mitbrachte, nach ihrer Ausbildung ins Ausland wollen. Dabei sei dessen Tochter aus erster Ehe – so um die 30 – gerade mit Kind wieder bei ihm eingezogen. Im Vergleich zu diesem Bekannten gehe es ihm ja noch gold, sagt Jürgen und tätschelt mit der rechten Hand seine Hosentasche, in der das Trinkgeld klimpert. »Da kannste nich meckan, wa?«
5
RENTE SICH WER KANN
Wenn Ihnen das Kaffeetrinken mit den lieben Verwandten zu langweilig geworden ist, ein Smalltalk unter Kollegen zu verkrampft locker, ein Gespräch am Stammtisch zu oberflächlich – werfen Sie das Wort »Rente« in die Runde. Einfach so. Kann man völlig zusammenhanglos tun: »Na ja, schön und gut, aber die Rente ...« Sie werden staunen, was passiert. Als hätten Sie eine Flasche chemischen Brandbeschleuniger auf die Tischkerzen gesprüht. Flammen der Empörung lodern empor, Blitze der Entrüstung leuchten auf. Hochspannung entlädt sich in fortgesetztem Donnergrollen. Manchmal entsteht eine Art Wetteifer darum, wer der Betrogenste aller Betrogenen ist, wem am meisten Unrecht getan wurde oder noch getan werden wird; wer jetzt »dumm dasteht«, obwohl er so klug und vorsorglich »ein Leben lang« fleißig und gesetzestreu war. Da jede Woche eine neue, meist »alarmierende« Statistik in der Lokalzeitung steht und mit der Alterung der Gesellschaft auch die Zahl der publizierten wissenschaftlichen Studien von Alters-Experten exponentiell steigt, sitzen mit Ihnen natürlich ausnahmslos Experten am Tisch. Und wenn sich dann herausstellt, dass jede und jeder dank Internet und persönlichem Anlage-Berater Experte in Sachen eigener Rente ist, kann sich der Sturm der Entrüstung sogar schnell wieder legen.
Die New Yorker Gerontologen Steven M. Albert und Maria Catell stellten Ende der 90er Jahre fest, dass es unter weltweit 95 Naturvölkern noch 20 Volksgruppen gibt, die ihre alten Leute umbringen. Irgendwo aussetzen, verhungern, verdursten oder erfrieren lassen. Weil die Nahrung knapp ist (in
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