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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Malessa
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Arbeitnehmer in Rente. 57,7% taten das, bevor sie das 65. Lebensjahr erreicht hatten. 18 Die veränderten (oft absurd schlechter werdenden) Arbeitsbedingungen und wirtschaftlichen Sachzwänge lassen die wenigsten Berufstätigen bis 65 oder gar 67 durchhalten.

    Wer Franz Müntefering Bösartigkeit unterstellen will – er hatte als Wirtschafts- und Sozialminister 2007 die Anhebung des Renteneintrittsalters forciert –, der könnte vermuten, der Gesetzgeber habe mit den Ermüdungserscheinungen seiner Bürger kalkuliert und lediglich eine verdeckte Renten kürzung vorgenommen. Nach dem Motto: Bis 67 schafft es eh kaum jemand. Da nützt es auch nichts, den Ermatteten in Hochglanzmagazinen immer wieder zu erzählen, dass Michelangelo mit 71 anfing, die Decke der Sixtinischen Kapelle auszumalen. Immanuel Kant seine
»Metaphysik der Sitten« mit 73 und Theodor Fontane seine Erzählung »Effi Briest« mit 70 schrieb. Dass Thomas Edison mit 83 noch ein Patent anmeldete und Konrad Adenauer mit 85 zum vierten Mal Bundeskanzler wurde.

    Und die Arbeitgeber? So sie nicht gerade »Staatsbetriebe« leiten, haben sie längst vorausgesehen, dass es Unsinn ist, einen großen Teil der Belegschaft gemeinsam alt werden zu lassen und dann geschlossen in Rente zu schicken. Betriebsinterne Vorruhestands-Regelungen und Altersteilzeit sowie abfindungs-verzuckerte Frühabgänge sollen jene Gelder und jene Arbeitsstellen freischaufeln, in die man dann junge Kräfte stecken kann. Auch hier steht ein leicht entflammbares Tischfeuerwerk der Empörung neben der Kaffeetasse. Dass die Damen und Herren Konzernlenker dies nicht immer tun, sondern Ältere »entsorgen«, ohne Jüngere einzustellen, ist eine kritikwürdige und reformbedürftige, aber wohl unvermeidliche Nebenwirkung des flexiblen Rentenbeginns. Was die in den Berufs-»Wechsel«-Jahren befindlichen Rentenanwärter und ihre resignierte Wut allerdings vom zornigen Protest der Pubertierenden unterscheidet: 14jährige denken nicht in geschichtlichen Kategorien, interessieren sich wenig für das, was einmal war, und ändern ihre Haltungen schnell. 60jährige denken in historischen Prozessen, erinnern sich noch gut an alles, was einmal war und ändern ihre Haltung nur langsam oder gar nicht mehr.

    Zwischen 1960 und 2000 wurde der gesetzliche Rentenversicherungsbeitrag vom Bruttolohn eines Arbeitnehmers elf Mal erhöht. Auch zuvor hatte die Regierung Adenauer oft und beherzt in den Rententopf gegriffen, um z.B. den
Aufbau der jungen Bundeswehr zu finanzieren. Etwa zwei Dutzend Mal wurde am Rentensystem herum geschraubt, bis 1973 die flexible Altersgrenze ab dem 63. Lebensjahr eingeführt wurde und von 1984 bis 1988 die Vorruhestandsregelung ab 58 galt. Mehr als 60% der berechtigten Arbeitnehmer nahmen diese in Anspruch, weshalb Helmut Kohl später meinte, dies sei der größte Fehler seiner Kanzlerschaft gewesen. 19 Es war vielleicht nicht der größte, aber einer, den er wenigstens zugab. Seit 1989 existiert die Alters-Teilzeit, seit 1990 gibt es Millionen ostdeutscher Rentenempfänger, die nicht in die westdeutsche Rentenkasse eingezahlt haben. Seit 1998 ist die Empfehlung eines »sozialverträglichen Ablebens« sprichwörtlich. Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar sprach es aus und die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte es zum »Unwort des Jahres«. Seit 2002 – dem Jahr der ersten großen Flutkatastrophen an Oder, Elbe, Donau und Inn – heißt der demographische Wandel bei manchen »Rentnerschwemme«. Noch – und damit wären wir in den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts – finanzieren rund 27 Millionen erwerbstätige, sozialversicherungspflichtige Beitragszahler rund 20 Millionen Rentenempfänger. Aber: Die immer geburtenschwächeren Jahrgänge beschreiten immer längere Ausbildungswege. Generation Praktikum eben. Wer aber erst mit 30 Jahren und einem niedrigen Einstiegsgehalt eine »Karriere« beginnt, einen oftmals prekären, konjunkturabhängigen Beruf ergreift und diesen dann auf Teilzeitarbeit reduzieren muss, sobald er Kinder großziehen will – der ist nicht gerade das, was man eine sprudelnde Geldquelle für die Rentenkasse bezeichnen könnte. Die früh und erschöpft in den Ruhestand wankenden Menschen ab 55 aber müssen momentan durchschnittlich 18 Jahre lang
»durchgefüttert« werden. Zukünftig wohl bis zu 25 Jahre lang.

    Eins hat sich während dieser nunmehr 60 Jahre andauernden Chronique scandaleuse nicht geändert: Die Vorstellung nämlich, wir hätten unsere

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