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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Malessa
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Wüsten z.B.), weil sie die Wanderungen nicht mehr schaffen (in Steppen und Gebirgen z.B.) oder weil
die Energieressourcen begrenzt sind (am Nordpol z.B.). Im Vergleich zu denen geht es uns noch gold, zugegeben, aber unsere Rente – na na na, wer weiß.

    Am 9. März 2007 beschloss der Bundestag, das Renteneintrittsalter schrittweise, d.h. von 2012 bis 2029, auf 67 Jahre anzuheben. Jahrzehntelang haben Regierende und Gewerkschaften genau das Gegenteil gefordert. Für eine Herabsetzung des Rentenalters gefochten, weil man sich davon mehr freie Arbeitsplätze für nachrückende Junge erhoffte. Mit 65, mit 63, mit 62 – die Selbstverständlichkeit, mit der »Vater Staat« seinen Landeskindern vorschreibt, wann sie zu »gehen« haben, wirkt heute seltsam antiquiert. Aus einer Zeit stammend, als Broterwerb nur saure Pflicht und Ruhestand das Ziel aller Träume gewesen sein muss. Die sehnsuchtsvolle Frage »Und? Wie lange musst Du noch?« wollten die Sozialdemokraten dem hustenden Bergbaukumpel und die Christdemokraten dem entnervten Lehrer mit immer früheren Ausstiegsterminen beantworten können. Die Roten hingen der Vorstellung aus der alten Arbeitswelt an, dass ein lohnabhängiger Malocher nichts lieber mache als Feierabend. Am besten für immer bei voller Lohnfortzahlung. Für die Schwarzen galt die Vorstellung aus dem alten Preußen, alle Menschen wären am liebsten Beamte. Mit heiligen Schalterschließzeiten bei garantierter Pension. (Kurt Tucholsky: »Der Alptraum jedes Deutschen: Vor einem Schalter zu stehen. Der Traum jedes Deutschen: Hinter einem Schalter zu sitzen.«)

    Dass sich die Arbeitswelt, die Produktions- und Kommunikationsmittel, die wirtschaftlichen Gegebenheiten, die öffentliche Kultur, die private Lebenswelt und schließlich
das Selbstverständnis der Berufstätigen im 21. Jahrhundert radikal gewandelt haben – das scheint vielen Bürokraten hinter ihren Paragrafen, Formularen und Amtsbescheiden entgangen zu sein. Wer diesen Satz unhöflich findet, betrete einmal die Parallelwelt einer Sozial- oder Finanzbehörde. Eine Stechuhr (!) definiert Arbeit und Freizeit. »Klack, ab jetzt ist Arbeit. Klack, ab jetzt ist Feierabend. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.« 15 Auf den Fluren riecht es nach Bohnerwachs, in den »Amtsstuben« nach Staub auf vergilbten Mappen. »Wer in Frankfurt abends durchs Bankenviertel radelt, sieht noch viele helle Fenster. Im Kölner Rheinau-Hafen, wo große Computerfirmen sitzen, ist auch sonntags die Kantine offen. Zu den wenigen Gebäuden, die definitiv werktags Schlag 17 Uhr dunkel sind, gehört das Finanzamt. Das sei den Angestellten dort gegönnt, denn ihre Arbeit ist hart und wird schlecht bezahlt. Aber in der Zeitung könnten sie lesen: Die meisten Deutschen arbeiten heute zeitlich flexibel.« 16 Das gilt nicht nur für die Wochen-, sondern auch für die Lebensarbeitszeit.

    Dass diese Beobachtung nicht überall angekommen ist, zeigt die zweite seltsame Eigenart unserer Rentengesetzgebung: Wer vor dem gesetzlich festgelegten »Eintrittsalter« aus dem Berufsleben geht, verliert 0,3% seiner Rentenansprüche pro Monat, d.h. 3,6% pro Jahr. Wirft jemand z.B. drei Jahre vor dem regulären Schlussgong das Handtuch, bekommt er bis zu seinem Tode monatlich (!) 11% weniger als die gesetzlichen 60% vom letzten Nettogehalt. Lebt also künftig von weniger als der Hälfte. Ob ein Profi seines Fachs 35 Jahre lang ein Zugpferd war oder eine Fehlbesetzung, ob er gerackert oder sich gedrückt hat – das ist alles wurscht, sobald er um die 60 auf die Zielgerade einbiegt.

    Entscheidend sind allein die letzten Meter. Erst diese Voraussetzung lässt manche »Alten« in einer Firma so verbissen um jeden Monat feilschen. Selbst dann, wenn ihr Betrieb groß genug für eine betriebliche Altersvorsorge und sie selbst wohlhabend genug für eine private Rentenversicherung waren. Erst dieser Umstand macht verstehbar, warum einerseits 95% der heute 60jährigen die »Rente mit 67« strikt ablehnen 17 (obwohl es sie selbst noch gar nicht betrifft, sondern erst die heute 50jährigen) – und sie andererseits ihre Pensionierung als »Zwangsverrentung« beklagen und lieber selbst bestimmen würden, wann Schluss sein soll. Dass diese »eigene« Entscheidung keine einsame ist, sondern von den Knochen, den Nerven, der Konzentrations- und Lernfähigkeit maßgeblich mitentschieden wird, sagen sie freilich nur leise und nicht im pathetischen Empörungsgestus. Im Jahre 2010 gingen rund 850.000

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