Altherrensommer
logisch zu fragen: »Und ums Haus kümmern Sie sich jetzt?« »Nein. Kann ich nicht. Will ich auch nicht.« Ich bin etwas verblüfft. Was er sofort bemerkt: »Wissen Sie, es gab ja zunächst eine euphorische Aufräum- und Archivierungsphase, also die ersten fünfzehn, achtzehn Monate nach meiner Pensionierung. Ich habe im Keller mit Begeisterung alte Akten ausgemistet, neue angelegt, Unterrichts-Manuskripte und Zeitungsausschnitte nach Themen und Stichworten katalogisiert und abgeheftet. Ich habe mich von der Hälfte meiner Bücher getrennt, mit den Einkäufern großer Antiquariate halbe Abende am
Telefon verbracht. Ich hing wochenlang bei e-bay herum, Tag und Nacht. Einmal stand ich mit dem Rest vom Rest sogar auf einem Bücherflohmarkt, stellen Sie sich das vor! Dann habe ich uralte Urlaubsfotos eingescannt oder auf CD gebrannt. Ich habe – lachen Sie jetzt nicht – unsere Liebesbriefe aus den Jahren vor der Ehe nach Datum sortiert, die schönsten in Folie laminiert und die peinlichsten weggeschmissen. Einvernehmlich mit meiner Frau, versteht sich.« Er blinzelt mir zu. Ein bisschen verschwörerisch, als sei nicht immer und alles so einvernehmlich entsorgt worden. Ich nicke kumpelhaft. »Durch die Sichtung alter Briefe kam ich automatisch zur Erforschung unserer Genealogie,« – dachte ich’s mir doch – »die auf meiner Seite recht gut und über mehrere Jahrhunderte dokumentiert ist. In der Familie meiner Frau aber höchstens bis zu den napoleonischen Kriegen zurückreicht.« »Weil Sie adeliger Abstammung sind, Ihre Frau hingegen bürgerlich?«, werfe ich ein. »Nein, nein, noch einfacher. Weil wir immer katholisch waren, also in den Tauf- und Eheschließungsregistern der Kirchenbücher stehen, die Eltern meiner Frau aber aus der evangelischen Kirche ausgetreten waren. Keine Taufen, keine Konfirmationen, nix mehr. Viel schwerer zu erforschen, wenn man nicht sofort auf die riesigen Archive der Mormonen zurückgreifen will. Und dann kam, na ja, wie soll ich sagen, dann kam ...« Herr von Maßmüller nimmt einen tiefen Schluck, redet aber nicht weiter. Ich warte. Wir schweigen.
»Sind Sie ein Praktikus?«, fragt er mich plötzlich. »Nö«, verneine ich, »zwei linke Hände. Mit je fünf Daumen.« Wir lachen ein wenig. »Nach der ersten Aufräum- und Forschungseuphorie, was kam dann?«, frage ich. »Ich bin
Oberstudienrat für Deutsch, Latein und Religion. Kein Werklehrer und schon gar kein Handwerker.« »Ich bin«, sagt Josef Hermann. Nicht »ich war«. »Nun gut, aber ...«, will ich einwerfen, da unterbricht er mich: »Man kann das lernen. Was eine Gehrungssäge von einem Fuchsschwanz unterscheidet, wie man Laminat verlegt, ob Fußleisten geklebt oder genagelt werden und welche Wandfarbe gut geeignet oder einfach Scheiße ist. Kann man lernen.« Seine Wortwahl und sein Tonfall lassen ein heraufziehendes Sturmtief erahnen. »Aber wo um alles in der Welt steht geschrieben, dass Geistesarbeiter plötzlich Heimwerker werden müssen, nur weil sie jetzt Zeit haben?!« Er fragt das eine Spur zu erregt. Deshalb kann ich mir denken, was nach der euphorischen Aufräum- und Archivierungsphase in seinem ersten Rentnerjahr kam. Die Erkenntnis nämlich, dass er keine Freude daran hatte, was seine Frau von ihm erwartete: Handwerkliches Geschick und Lust am Renovieren. Wo doch im und am Haus »immer was gemacht werden muss«.
»Ich gehe gerne einkaufen, ich koche inzwischen ganz gut, ich putze leidlich. Außer Hemden bügeln habe ich vieles gelernt, so ist das nicht. Wenn die Regenrinne vom Herbstlaub verstopft ist, mache ich sie sauber, keine Frage. Rasen mähen, Hecke stutzen – einverstanden. Aber sägen und schrauben und bohren und hämmern, Wände tapezieren und sich mit Klempnern und Elektrikern rumärgern? Sine mecum!« Herr Lateinlehrer hat also auch keinen Hasenstall gebaut für die kleinen Enkel und keine Fahrräder repariert für die großen, denke ich im Stillen. Oder er hat es versucht und dabei erst das Werkzeug geschrottet und sich dann die Hand verletzt. »Was machen Sie stattdessen?
« , möchte ich jetzt wissen. Was macht ein pensionierter Geistesarbeiter, der sich im Haus und ums Haus herum nur begrenzt nützlich machen kann? Das zu fragen traue ich mich aber nicht. »Von der qualvollen Aneignung wesensfremder Fertigkeiten ...«, sagt er jetzt und hält sich ein längliches Stück Gebäck zögernd vor den Mund, als sei es ein Mikrofon, »also von Dingen, die man ums Verrecken nicht ins Hirn oder die
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