Altherrensommer
Hände kriegt – davon verstehe ich etwas!« Ich muss kurz überlegen. »Sie meinen: Vom Nichtkönnen trotz Lernen wollen verstehen Sie was?« »Genau. Ich gebe ja noch Nachhilfe, seit ich pensioniert bin. Es gibt wunderbare Kinder manchmal. Aber Latein? Nichts zu machen. Für die produziert ein Lehrer nur heiße Luft, und wie schon Abraham Lincoln sagte: You can’t fertilize a field by farting thru the fence. Verstehen Sie das?« »Ja. Man düngt kein Feld, indem man nur durch den Zaun furzt.« Herr von Maßmüller lacht, als höre er das Zitat zum ersten Mal auf Deutsch. Glucksend fügt er hinzu: »So geht’s mir eben mit den Ratgeberbüchern für Heimwerker.«
Die Gleichzeitigkeit von gepflegter Wortwahl und vulgärer Derbheit hat etwas von den sogenannten »Herrenabenden« in alten Schwarzweißfilmen, denke ich. Da plaudert mein Gastgeber aber schon weiter. In einem etwas ernsthafteren Ton diesmal: »Sie haben sich vielleicht gewundert, warum jemand in einer evangelischen Stadt so einen Vornamen hat?« Ein bisschen hatte ich das, zugegeben. »Meine Eltern waren sehr katholisch und, sagen wir mal, sehr nationalbewusst. Keine Nazis, das nicht, aber stramm für Adenauers CDU und eine militärische Westanbindung gegen die Sowjets. Deshalb: Josef. Und Hermann. Und daher auch mein politisches Interesse.« Politisches Interesse,
aha. Und was heißt das praktisch? Zeitunglesen allein kann es doch nicht sein? »Ich schreibe z.B. Fernsehsendungen mit. Gedächtnisprotokoll könnte man sagen. Talkshows, Dokumentationen. Aber auch politische Kommentare im Deutschlandfunk. In Steno.« Die Standuhr hinter der Ledersitzgruppe dröhnt so laut und glockenschwer zehn Mal, dass ich »Stereo« verstehe. Was mein Gastgeber lachend korrigiert: »Nein, in Steno, Stenographie. Kurzschrift. Musste früher jede kleine Sekretärin perfekt können. Kennen Sie gar nicht mehr, was? Aber Latein, Literatur, Malerei, klassische Musik, Theater und Geschichte kennt ja auch keiner mehr. Braucht keiner mehr, war mal, geht gar nicht, hamwer nich.« Da ist ein bitterer Unterton in seiner Stimme. Etwas irritiert will ich beteuern, wie humanistisch allgemeinbildet ich noch bin, aber der adelige Josef steht jetzt auf und holt eine Kladde Mitschriften von der Fensterbank. »Könnte man sich auch alles von den Internetseiten der Sender downloaden, ich weiß. Geht aber so schneller, glauben Sie mir.« Und dann beginnt er, in seinen Notizen zu blättern. Von der systematischen Zerschlagung des abendländischen Bildungaskanons durch die 68er, die Gesamtschule, die PISA-Vorgaben fürs Gymnasium und den Bolognaprozess an den Universitäten. »Wenn Sie heute im Religionsunterricht Golgatha sagen, denken die Schüler an die Zahnpasta Colgate. Ich hab’ mal im Geschichtsunterricht, in einer Elf, da hab’ ich mal erklärt, dass man kommunistische Länder und Überzeugungen mit der Farbe Rot assoziiert. Rote Armee z.B. oder Rot-China. Und einer fragte, warum es dann Rosa Luxemburg heißt!«
Josef Hermann findet das nicht lustig, er liest jetzt in gehobener Stimmlage aus seinem Notizbuch weiter. Von
der Verflachung ernster und erhabener Kulturereignisse zum kommerziellen Eventzirkus: »Ob Ring der Nibelungen oder König der Löwen, alles egal, solange es vorher Sekt und hinterher Würstchen gibt!« Von der marktförmig gestylten Trivialisierung hoher Literatur: »Wenn Martin Walser oder Martin Mosebach nicht in brüllwitzigen Talkshows auftreten, werden ihre Bücher auch nicht in den Bahnhofsbuchhandlungen gestapelt.« Und, natürlich, vom Niedergang der deutschen Sprache durch Anglizismen, dem pubertären SMS- und Twitter-Deutsch. Die Welt ist dumm, soviel scheint klar. Statt stetig gegenzuhalten, habe ich viele Tassen Kaffee getrunken. Ich bitte um eine kurze Pause und entdecke an der Wand der Maßmüller’schen Toilette eine riesige Pinnwand. Korkfläche in Wurzelholzrahmen, soweit man das noch erkennen kann. Darauf: Ansichtskarten von Sonstwo, Gepäckanhänger mit den Kürzeln weltweiter Flughäfen, vor allem aber Eintrittskarten sind befestigt. Man müsste mehr müssen, um sie alle zu lesen. Aber auch der kurze Blick zeigt: Herr Oberstudienrat von Maßmüller und seine Frau, Verwaltungsbeamtin im Rathaus, haben in den letzten Jahren wohl alles besucht, was im Umkreis an Vorträgen, Foren, Podiumsdiskussionen, Theaterpremieren, Buchvorstellungen, Benefizkonzerten und Themengottesdiensten geboten wurde. Zwei typische Bildungsbürger, die das Geistesleben
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