Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Malessa
Vom Netzwerk:
Erfahrungen mit Abholern. Dass jedes Kind zwei Eltern hat und diese den gleichen Nachnamen haben – das war einmal. In Großstädten ist das inzwischen eine schöne und einfach zu merkende Ausnahme. Mehr als 200.000 Ehen werden in Deutschland pro Jahr rechtskräftig geschieden, die Zahl der Trennungen langjähriger Lebenspartnerschaften nicht mitgezählt. Trotzdem oder gerade deshalb ist die Experimentierfreude für Patchwork-Familien ungebrochen. (»Früher hatten Eltern vier Kinder, heute haben Kinder vier Eltern.«) Infolgedessen hat sich das Aufsichtspersonal »schutzbefohlener« Minderjähriger meist klaglos daran gewöhnt, pro Kind die Namen von vier oder fünf sogenannten »Abholberechtigten« zu notieren: Mamas Ex, der biologische Vater, und Mamas Freund, der momentan soziale Vater, gehen klar. Mamas Mutter und Vater, die biologischen Großeltern mütterlicherseits, gehen auch. Aber was ist mit der neuen Freundin von Mamas Ex? Ist morgen ein rechtmäßiges Besuchswochenende oder nicht? Und Mamas Ex-Schwiegervater, der väterlicherseits biologische, aber irgendwie biographisch abgeschaltete Opa?

    Es steht ein alter Mann im Trenchcoat vor der Tür, den nicht alle der (häufig wechselnden) Teilzeit-Kräfte und Praktikantinnen persönlich kennen können, und der will die kleine Nicoletta außerplanmäßig abholen? Na danke schön. Er sei der Opa, sagt er. Aber Mama ist nicht über Handy erreichbar und Nicoletta will nicht mitgehen. Sie spielt doch gerade so schön. Keine Statistik kann es beweisen, aber jeder Mann über 55 kann es ausprobieren. Setzen Sie sich z.B. eine Viertelstunde neben einen öffentlichen Kinderspielplatz auf die Parkbank und Sie werden
merken: Omas genießen wohlwollende Blicke. Opas lösen Argwohn aus. Vergewaltigt und ermordet werden kleine Kinder von Männern, nicht von Frauen. Basta. Zwei Dutzend um die Sandkästen und Spielgeräte verstreut sitzende Mütter unterbrechen ihre Telefongespräche und verfolgen aus Argusaugenwinkeln, was da abgeht. Ein offensichtlich mit diesem Herrn herzlich vertrautes Kleinkind ruft ihn »Opa«, springt in seine Arme, zeigt ihm Käfer und Ameisen im Sand, lockt ihn auf die Rutsche. Er hält sich beim Hinaufsteigen am eiskrem- und schnodderverklebten Geländer fest, rutscht mit dem Kind auf dem Schoß gemächlich hinunter, bemerkt nicht den so erworbenen alten Kaugummi an seiner Hose. Er weicht Sandkuchenförmchen und kleinen windellosen Nackten aus, entdeckt erst jetzt, dass der mit Taschen schwer behängte Buggy umgekippt ist und der Proviant im Dreck liegt. Fräulein Enkeltochter brüllt und bockt, wirft sich vor Wut über nicht mehr essbare Kekse auf den Boden. Rastet der Alte jetzt aus? Nein. Macht er als erstes den Schnuller der Teeflasche wieder sauber? Ja. Kann er das Kind von seinem Kummer ablenken? Auch das. Die prüfenden Blicke entspannen sich, die sorgfältig gezupften Augenbrauen gehen wieder runter, die Wahlwiederholungstasten der elektronischen Plauderblöckchen können gedrückt werden. Irgendwie spürt der Mann ab 55 die Veränderung der Atmosphäre. Hätte er Lust darüber nachzudenken, fiele ihm auf, dass er sich soeben für die freundliche Duldung in einem Mütter-Biotop qualifiziert hat. Vielleicht bekommt er von einem aufmunternden Lächeln sogar signalisiert, dass man ihn, Verzeihung, dass frau ihn nun nicht mehr mit Argwohn beäugen, sondern mit Anerkennung betrachten wird. Was Opa nicht spürt: Es ist eine »Obwohl«-Anerkennung. Ein
verwundertes Staunen über seinen Umgang mit Kindern, »obwohl« er schon so alt und »obwohl« er ein Mann ist. »Obwohl« er wahrscheinlich im tiefsten Herzen ein Macho ist und »obwohl« er früher die eigenen Kinder vermutlich vernachlässigte. – Rein theoretisch. Sollte man meinen. Liegt doch nahe. Könnte ja sein.

    Vor vierzig Jahren, da nahmen alte Kfz-Schlosser für einen Moment die Selbstgedrehte aus dem Mundwinkel und zogen die Augenbrauen hoch, wenn eine junge Frau vor die Werkstatt fuhr, die Motorhaube ihres Opel Kadett öffnete und sagte: »Ich glaube, es ist die Lichtmaschine.« Dann bekamen die Karre einen neuen Keilriemen und die Kundin ein erstauntes Kopfnicken. Eine »Obwohl«-Anerkennung: Hat Ahnung, obwohl sie eine Frau und obwohl sie so ein junges Ding ist. Obwohl sie wahrscheinlich dreckige Schläuche und Schrauben hasst und früher nicht einmal den Einfüllstutzen für das Öl gefunden hat. Sollte man meinen. Jetzt nur mal vom Äußeren her.

    Es hat sich etwas gedreht.

Weitere Kostenlose Bücher