Altherrensommer
damit jede Gestaltung von FreiZeit die richtige ist, redest Du Dir jede blöde Rentner-Pusselei selber wichtig. Und eines Tages merkst Du eben, dass Du Dir was in die Tasche lügst.«
Uwes Wangen und Ohren scheinen leicht gerötet. Saskia empfiehlt zum zweiten Mal ihre Erfrischungsdrinks und ergreift Partei für ihren Mann: »Uwe hatte einen Tagesrhythmus von sechs Uhr fünfzehn bis neunzehn Uhr dreißig, oft auch länger. Dann einen Wochenrhythmus – Du freust Dich auf Freitagabend, das Wochenende als Oase. Dann sogar einen Saisonrhythmus, das Jahr war getaktet: Monatsabschluss, Quartalsbericht, Budgetplanung zum Halbjahr, dann Sommerurlaub, Messetermine im Herbst oder Routinereisen. Alles hatte seine geregelte Zeit. Sachzwänge eben. Dann wurde ich plötzlich der einzige Sachzwang. Stimmt’s, Schatz?« Uwe lächelt süßsauer. Kann aber auch vom ersten Schluck Limettensaft kommen. Saskia fährt fort: »Früher berichtete mir Uwe während 15 Minuten Frühstück tausend wichtige Dinge. Als er in Duisburg rausgeflogen war und immer ausschlafen konnte, saßen wir bis halb elf vor unseren Brötchen. Und was erzählten wir uns? Nix. Oder Banalitäten. Und Notizen aus der Lokalzeitung.« Jetzt schaut sie mich herausfordernd an, als sei ihr gerade ein freundlich angriffslustiger Gedanke gekommen: »Du bist ja auch nicht hier, weil Du nichts Besseres zu tun hast, sondern weil sich Dein Besuch mit zwei
anderen Terminen verbinden ließ. In zwei Stunden musst Du wieder los, stimmt’s?« Ich nicke und bedauere es nicht. Uwe versucht, sich zu erklären und abzuwiegeln: »Weil freie Zeit, also gemeinsame Freizeit, für uns ein knappes Gut war, war sie auch ein wertvolles Gut. Plötzlich gibt’s Freizeit im Überfluss, aber sie ist Dir entsprechend weniger wert und am Ende lässt Du Dir Deinen Tagesablauf vom Fernsehprogramm strukturieren.«
Ich habe noch immer nicht den leisesten Schimmer, warum solche Pensionärsprobleme zu einem Ausraster beim Arzt führen müssen: »Und dann?« Uwe und Saskia schauen sich an, als wollten sie per Blickkontakt Einigkeit darüber erzielen, was sie mir erzählen und was nicht. »Dann haben wir uns gestritten. Haben ganze Wochenenden vor der Glotze gesessen und uns gegenseitig vorgehalten, was wir jetzt eigentlich tun könnten, tun müssten, tun sollten.« Es entsteht eine kleine Pause, bis Saskia fortfährt: »Und dann hat es abermals ein halbes Jahr gedauert, bis ich kapiert habe, dass wir nicht nur mehr Zeit für Gemeinsamkeiten haben, sondern auch mehr Zeit für Interessen, denen wir getrennt nachgehen können. Früher musste die knapp bemessene Freizeit gemeinsam verbracht werden. Jetzt kann jeder von uns, ganz ohne schlechtes Gewissen, tagelang sein eigenes Ding machen.« »Und dann?«, insistiere ich. »Dann hab ich gelernt, meine Woche zu planen«, antwortet Uwe. »Ich mache am Montag alles am Haus, dienstags Post, Verwaltungskram, Freunde kontakten. Mittwochs bin ich vormittags ehrenamtlich hier in einem Jugend- und Freizeitheim aktiv und abends im Kirchengemeinderat. Donnerstags mache ich nur was für mich, gehe schwimmen, wandern, ins Fitness-Studio, hin und wieder
zum Tennis spielen oder zum Arzt, falls nötig. Freitags ist Einkaufen angesagt und ...«
»Arzt?!«, rufe ich dazwischen, wie aus einer leichten Geistesabwesenheit erwacht. »Ja, wieso?«, fragt Uwe. Wie dumm von mir! Soll ich jetzt antworten: Da bist Du doch neulich ausgerastet, wie man sich erzählt? Uwe räuspert sich und macht eine abfällige Handbewegung: »Gliederschmerzen manchmal. Kniegelenke, Knöchel. Kennste doch, den Spruch: Wem mit über 50 morgens beim Aufwachen absolut nichts weh tut, der ist wahrscheinlich tot.« Ja, den kannte ich schon. Er gehört zum sprachlichen Standardinventar, mit dem alte Menschen ihre Gebrechlichkeiten beschönigen. Genauso wie das Wort »Zipperlein«. Dabei »zippt« es beim Aufwachen manchmal dermaßen schmerzhaft, dass man am liebsten liegend zum Physiotherapeuten gefahren werden möchte. »Also ich war lediglich zu einer Routineuntersuchung beim Arzt, und wenn Du mit nichts Akutem angemeldet bist, lassen die Dich warten, bis Du verschimmelst.« Aha, denke ich, wir nähern uns. »Und?« »Nach einer geschlagenen Stunde Rumsitzen hab ich gesagt, auch Rentner hätten ihre Zeit nicht gestohlen. Fand sie nicht lustig, die Sprechstundenhilfe. Und sagt mir doch ganz frech ins Gesicht: Aber geschenkt haben Sie Ihre Zeit!«
»Oha.«
»Allerdings. Na, da war was los, sag ich
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