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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Malessa
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als man das von einer »Bohnenstange« erwarten durfte. Schön und gut. Aber, sehr geehrter Herr Darwin, hat die Evolution denn noch nicht gemerkt, dass sich die Anforderungsprofile inzwischen geändert haben?! Dass flachbrüstige Damen die besseren Juristinnen und fassbäuchige Herren die besseren Bauingenieure sein können? Mit Aufmerksamkeit, Anerkennung und barem Geld belohnt werden schlanke Männer aber nicht nur wegen ihrer Attraktivität, die bessere Beute verheißt, sondern möglicherweise auch wegen ihres zähen Kampfes gegen Pfunde und Jahre. Wegen des weithin und auf den ersten Blick sichtbaren Beweises, dass sie »niemals aufgeben«, dass sie »eine Kämpfernatur« sind und »an sich arbeiten«, kurz: dass Sisyphos den Baumstamm noch viele Male den Berg hinaufrollen will. Man muss die humorlose Strenge, die hochkonzentrierte Ernsthaftigkeit mal live
erlebt haben, mit der Männer ihren Body zum »Projekt« erklären. An den Fruchtsaft-Bars gehobener Muckibuden geht’s moralisch rigoroser zu als in jeder Papstansprache. Keiner fragt nach, auf wessen Kosten diese Kämpfe ausgefochten werden: »Ich steige dreimal wöchentlich auf mein Laufrad, gehe danach in die Sauna, nehme nach Konzerten gern eine ausführliche Behandlung im Kosmetikstudio mit Gesichtsmaske, Maniküre, Massage und Meditation«, verriet Musiker Peter Schilling, Mitte fünfzig, einem Gesundheitsmagazin. Glückwunsch zu so viel Zeit für den eigenen Bauchnabel! Ein Geschäftsführer aus dem Mittelstand, achtzig Angestellte, drei Kinder, ein Ehrenamt, schafft das wahrscheinlich nicht jede Woche. Und wenn, dann zu Lasten seiner Ehe und der Erziehung seiner Kinder. Dass man ihn für diesen Kampf – um Zeit und Lebensqualität in der Familie, um Wertevermittlung und soziale Kompetenz – mehr achten und belobigen müsste als für den vergeblichen Hase-und-Igel-Wettlauf gegen die altersbedingte Korpulenz, das wissen eigentlich auch alle. Aber nur im Kopf. Nicht im Bauch ...

    Und was ist mit den männlichen Film- und Fernsehstars, die trotz ihrer Leibesfülle oder ihres fortgeschrittenen Alters berühmte und beliebte Originale sind? Günter Strack seligen Angedenkens. Dieter Pfaff als Rechtsanwalt Ehrenberg in »Der Dicke«. Ein immerhin über 70jähriger Horst Krause vom »Polizeiruf 110«. Ottfried Fischer als »Bulle von Tölz« oder »Dr. Sommerfeld« Rainer Hunold von der TV-Praxis Bülowbogen. Diese Herren sind weder jung noch schlank und möglicherweise deshalb prominent und populär, weil sie signalisieren: Seht her, auch dicke Männer können schlau, charmant, lustig und erfolgreich sein.

    Eigenartig aber scheint mir: Was einer Kunstfigur auf dem TV-Flachbildschirm oder der Kino-Großbildleinwand als »Identifizierbarkeit«, als »Nähe zum Zuschauer« gerne zugestanden wird, ist im »richtigen Leben« peinlich unerwünscht. Beispiel gefällig? Sophia Coppola, Tochter des Star-Regisseurs Francis Ford Coppola (»Der Pate«), feierte 2010 international Erfolge mit dem Kinofilm »Somewhere«. Hauptdarsteller Stephen Dorff spielt darin einen einsamen Filmstar, den Sinnkrise und Schmerbauch gleichsam bedrücken. Faltig, krumm, leidlich füllig. Als das amerikanische Mode- und Lifestyle-Magazin »V Man« eine Titelstory über ihn brachte, prangte er rank und schlank mit sportlich-muskulösem Waschbrettbauch auf dem Cover. 50 Die Botschaft ist klar: Stephen Dorff darf einen Mann mit Bauch spielen. Aber niemals einer sein.

    Allerdings lassen sich Herren- und Damen-Zeitschriftenkäufer ja nicht für völlig doof verkaufen. Wir wissen genau, dass die halbnackten Model-Männer auf »Mens Health« und die ganz nackten Model-Frauen auf dem »Playboy« in Wirklichkeit ungefähr so häufig vorkommen wie sechs Richtige im Lotto. Der Witz dazu geht so: »Wenn Sie schon mal an der Nordsee auf einem FKK-Campingplatz waren, dann wissen Sie, warum sich das Meer alle sechs Stunden zurückzieht.« Diese beruhigend realistische Fähigkeit, zwischen retuschierten Profi-Fotos und privaten Urlaubs-Schnappschüssen zu unterscheiden, verhinderte allerdings in 65 Jahren deutscher Werbegeschichte keineswegs, dass uns meist nur junge und junggebliebene Gesichter mit straffer Haut unter vollem Haar, nur schneeweiß strahlende Zahnreihen hinter vollen Lippen von den Plakatflächen anlächeln. Schlanke, schöne, sexy wirkende Körper, die sich in
Werbespots verführerisch über Autoreifen, Mineralwasser, Seife, Tütensuppen oder Versicherungs-Bürotische beugen und

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