Altherrensommer
verliert, sondern die Haare, die er dazugewinnt. Nasenhaare z.B.! Buschig wuchernde
Augenbrauen, ein moosartiger Ohrmuschelpelz oder ein unregelmäßig werdender Bartwuchs, der trotz sorgfältiger Rasur immer irgendwo ein weißes Stoppelchen sprießen lässt. Geradezu hinterhältig am Abend, auf der Fahrt zu einem Date. Auch darüber hinaus legt Mann im Alter zu: an Stirnfalten, die nicht mehr wahlweise Freude, Staunen oder Skepsis ausdrücken, sondern sich unveränderlich eingegraben haben wie das Rift Valley in die Erdkruste Kenias. Tränensäcke unter den wässrigen Augen, als hätte man die ganze Nacht geweint. Wangen, die nach unten streben wie die Lefzen der beiden Hunde Napoleon und Lafayette im Disneyfilm »Aristocats«. Das irgendwie in den Hemdkragen hineingeschwollene Kinn, bei hageren Männern hingegen der sogenannte Leguanfaltenwurf. Und schließlich die buchstäblich hervorragendste aller Alterserscheinungen: Der Bauch! Das offensichtlichste aller Belastungsindizien, das unleugbare Corpus Delicti, das den Angeklagten als Serientäter jahrelanger Ernährungsmissetaten überführt: Die Wampe. Der Ranzen. Die halbe Weltkugel. Der Stau am mittleren Ring. Das »Ich-hatte-so’n-Hunger«-Ödem.
Beenden wir die qualvolle Selbstbetrachtung (nicht, weil gleich der Penis dran käme, dazu später mehr) und schauen statt in den Spiegel aus dem Badezimmerfenster. In die Welt. Dort verhindert nämlich ein seltsames Phänomen, dass alternde Männer das tun, was ihnen Ratgeberbücher raten: Sich »so anzunehmen, wie sie nun einmal geworden sind«. Alle wissen, dass man bei gleichbleibender Ernährungs- und Lebensweise ab einem Alter von ca. 40 Jahren jährlich ein Kilo zunimmt . Was ab dem 50. Lebensjahr bis zu drei Kilo im Jahr werden können. Das unerbittliche
Diktat unserer Gene beschert der Diät- und Fitnessindustrie, der Kosmetik- und Modebranche wöchentlich einen Millionen-Jackpot. Denn: Alle wollen, dass man es nicht sieht. Was illusorisch genug ist. Es kommt allerdings noch dicker, und zwar im doppelten Sinn des Wortes. Alle, die eine Diät hinter sich haben – wie etwa 90% der Frauen über 40 zum Beispiel –, wissen, dass der Alterungsprozess eine besonders perfide Gemeinheit bereithält. Das Abnehmen dauert immer länger, die anschließende Gewichtszunahme geht immer schneller. Ex-Außenminister Joschka Fischer sieht inzwischen wieder so aus wie vor seinem »Lauf zu sich selbst«. 48 Ärzte und Ernährungsberaterinnen erklären uns, warum das so ist. Frauenmagazine und Männer-Fitnesszeitschriften beteuern, dass dem nicht so ist. Aber niemand kann verhindern, dass es so ist. Erstaunlich ist allerdings, dass diese Erfahrung am kollektiven Schönheitsideal nicht rüttelt. Im Gegenteil: »Aus der spielerischen Kultur der Schönheit ... ist bitterer Ernst und das banale Ringen um soziale Anerkennung geworden ... Die neue Körperlichkeit mit ihren erbarmungslosen Vorschriften und auf Dauer unerfüllbaren Anforderungen bedeutet auch die Rückkehr einer der sieben Todsünden: die Völlerei. Sie wird allerdings nicht mehr im Jenseits abgestraft, sondern im Diesseits. Wir haben damit die Hölle auf Erden eröffnet und bestrafen uns unnachsichtig selbst. Dagegen ist der christliche Entwurf von geradezu trostreicher Menschenfreundlichkeit, denn er kennt immerhin Sühne und Vergebung.« 49 Unsere Neigung, schlanke Menschen für interessanter, begabter, erfolgreicher, ja sogar für (gesellschaftlich) wertvoller zu halten – die lassen wir uns von keiner noch so repräsentativen Statistik über erfolglose Diäten ausreden. Der große Mann mit straffer Haut, breiten
Schultern, Waschbrettbauch, schmalen Hüften und »knackigem« Po bekommt bei Vertragsverhandlungen oder in Bewerbungsgesprächen mehr Geld angeboten als der kleine Dicke. Und das nicht von weiblichen Personalchefs. Nein, insbesondere ältere Männer in den Chefetagen entscheiden so!
Tatsächlich funktionieren unsere archaisch-intuitiven Sexualreflexe nach Auswahlkriterien des Überlebens und der Fortpflanzung, die in der Steinzeit Sinn machten. Ein großgewachsener, herkulischer Kerl mit starken Brust-und Oberarmmuskeln versprach mehr Kampfkraft (also mehr Wildbret und Schutz) als ein gedrungenes Männlein mit Plauze. Eine ausgeprägte Po- und Rückenmuskulatur verhieß ausdauernde Beckenstöße beim Paarungsakt und damit Nachwuchs. Umgekehrt weiblich: Breite Hüften, runder Po und große Brüste versprachen einfachere Geburten und gesündere Babies,
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