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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Malessa
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Daimler, die Chefärztin auf dem Parkplatz des Klinikums müssen ihre Telefonate unterbrechen, nur weil Gary Brooker von »Procol Harum«
mit kehliger Stimme die erste Zeile von »A Salty Dog« intoniert. »All hands on deck / we run aflow / I heard the captain cry« – und dass der sonst so machtvoll-rational auftretende Boss dabei heulen muss, dass die sonst so gestrenge Frau Doktor einen Kloß im Hals spürt, hat ja weder mit irgendeiner konkreten Erinnerung noch mit Traurigkeit zu tun. Nicht mal mit Sehnsucht nach dem Meer. Es ist die reine Melancholie. Oder alberne Sentimentalität. Oder ist es nicht mal das, sondern schlicht eine Art alterstypische Gemütsschwäche?

    Als die Kinder noch klein waren und es an Ihrer Arbeitsstelle brummte, da fielen Sie abends wie tot ins Bett und hörten nach sechs oder sieben Stunden Erschöpfungsschlaf das Piepen des Weckers wie die Glocken zum Jüngsten Gericht. Genussvoller Luxus war es, draufzuhauen und satte zwei Stunden weiterzuschlafen. Jetzt – die Kinder sind aus dem Haus, die Firma hat Sie frühpensioniert – jetzt wachen Sie ungewollt um 5.00 Uhr zum ersten Mal auf, ganz ohne Wecker um 6.00 Uhr erneut, stehen um halb sieben auf und sind ab 14.00 Uhr bleiern müde. Sie schlafen mehr als früher – aber in kurzen Häppchen. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass Sie in der »Apotheken-Umschau« (»Rentner-Bravo«) lesen, das sei ganz natürlich und passiere allen alten Leuten. Sie sind seit Tau und Tag auf den Beinen, Schwager und Schwägerin kommen zum Mittagessen, der verregnete Sonntagnachmittag am Kaffeetisch zieht sich in die Länge – und Sie stemmen sich gegen die Tonnage Ihrer Augenlider. Kämpfen um Ihr Gleichgewicht im Sitzen. Und gegen den Grauschleier im Hirn. Müdigkeit. Lähmend wie ein Vollrausch. Was gäben Sie drum, einfach aufstehen zu dürfen und schlafen zu gehen!

    Und die wirklich ernsten Veränderungen im Alter? Das mit dem Sex und dem Geld und der Achtung voreinander und den seelischen Narben der Vergangenheit, die plötzlich wieder wehtun, all das wurde noch gar nicht erwähnt! Von Selbstbewusstsein und Sich-Nützlich-Machen, von vermeintlich dringenden Terminen und Placebo-Wichtigkeiten, von Würde und Selbstwert, Schuld und Scham haben wir noch nicht geredet. »Aber sonst ...«, beenden Sie den kurzen Smalltalk auf der Straße, »aber sonst ist noch alles o.k.!«

2
WARUM ERTRAGEN MÄNNER DAS?

    Wer ahnt es insgeheim zuerst – er oder sie ? Ein Paar jenseits der Silberhochzeit betritt ein Kaufhaus. Der Mann wird politisch korrekt und überaus höflich bei der Anprobe als »Herr im fortgeschrittenen Alter« angesprochen und von der Werbung als »Best Ager« oder »Silver Liner« umschmeichelt. In Wirklichkeit und Wahrheit jedoch kriegt er das Etikett »alter Sack« verpasst. Nicht ausgesprochen, versteht sich. Aber im Bruchteil einer Sekunde von Mitfahrenden im Stadtbus und von Kassiererinnen im Supermarkt über die Altherrenglatze hinweg in die Luft gebeamt: Alt. Opa. Etwas unbeholfen. Meistens mürrisch. Im schlimmsten Fall »herrisch«(!), in guten Momenten »irgendwie süß«.

    Merken es die Damen und verschweigen es höflich? Oder merken es auch die Herren, ignorieren es aber tapfer? Es mag daran liegen, dass »heutzutage in einer U-Bahn, besetzt mit zugestöpselten, Röntgenblicke durch die Wände schickenden Gelegenheits-Autisten es ja sowieso oberstes Gebot ist, dass man einander für unsichtbar hält, dass man sich nicht sieht und nicht hört« 1 . Auf Männer über 50 scheint dieses Gebot in verschärfter Form Anwendung zu finden. Gar nicht ablehnend, aber auch nicht interessiert, entscheidet sich zwischen zwei Lidschlägen, zu welcher Gruppe man(n) gezählt, gerechnet und abgeschrieben werden kann. Bei den jungen Geschniegelten an der Hotelrezeption und den jungen Strubbeligen am Fastfood-Counter »schaffen wir Alten es nur noch bis zu ihrer Netzhaut. Der Raum dahinter, wo das Sehen anfängt, bleibt uns verschlossen. Wir werden unsichtbar. Wir sind ihnen wie Laternen, Litfaßsäulen und Hydranten. Gegenstände, die man bemerkt, um ihnen auszuweichen.« 2

    »Frisch gebackene« Rentnerinnen und Rentner (ein unfreiwillig komisches Wort. Rentner kommen nicht ausgebrannt und schlapp, sondern frisch und knusprig aus der Hitze des Arbeitslebens) schwärmen in den Wochenendbeilagen der Tageszeitungen davon, wie fit, wie aktiv, wie gesellig sie sind. Beschreiben begeistert, wie lustvoll (ganz wichtig!) und genussvoll sie Möbel

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