Altherrensommer
Männer »fühlen« sich sogar um etwa 14 Jahre jünger und glauben, 8 Jahre jünger auszusehen. 5 Wenn das stimmt, wäre der »blinde Fleck« zwischen Eigenbild und Außenwahrnehmung etwa ein Jahrzehnt groß. Der Witz dazu lautet so: Im Wartezimmer eines Zahnarztes liest
der Patient auf den Urkunden an der Wand einen Namen, der ihm bekannt vorkommt. Hieß nicht ein schlanker, schwarzgelockter, flinker Junge in seiner Schulklasse so? Als mit bedächtigen Schritten ein korpulenter, glatzköpfiger Dentist das Behandlungszimmer betritt, denkt der Patient: »Aha, nein, dann ist er das nicht.« Beim Lesen der Patientenkarte stutzt der Zahnarzt. »Kann es sein, dass wir Anfang der 70er Jahre zusammen auf dem Hölderlingymnasium waren?« »Ja!« nickt der Patient. Der Zahnarzt lächelt: »Und welche Fächer haben Sie damals unterrichtet?«
Im realen Alltag funktioniert der blinde Fleck so: Er hält sich für einen gern gesehenen Stammgast im Edelitaliener und möchte die beiden ehemaligen Kollegen dorthin ausführen, wo ihn der Padrone – so hofft er – vom gemauerten Holzkohle-Steinofen aus mit Vornamen begrüßen wird. Wo man jede Weinempfehlung mit einer persönlichen Erfahrung kommentieren kann und die Preise zwar an der Obergrenze, aber grade noch bezahlbar sind. Die jungen Kellner sehen in dem Altherrentrio drei Restaurantgäste, die bei der Getränkeaufnahme erst umständlich ihre Lesebrillen suchen, dann »herrisch« Bestellungen aufgeben, das erste Glas Wein mit ebenso bedauernder wie bedeutungsvoller Miene zurückgehen lassen (»korkt!«) und schließlich wegen der abgedimmten Beleuchtung die Herrentoilette nicht finden. Und auf dem Rückweg, die letzte Treppenstufe übersehend, beinahe stürzen. Jeder Kellner auf Erden weiß, was das ist: Die heikle Kundschaft: männlich, über 50.
Alte Männer beschweren sich nicht, weil sie ihre tatsächliche Seelenlage weder benannt noch behandelt haben wollen.
Schon gar nicht im Opfer-Modus oder unter dem Verdacht der Hilfsbedürftigkeit! Das scheint mir der markanteste Unterschied zu Frauen gleichen Alters zu sein, denn die finden zeitweilige Hilfsbedürftigkeit keineswegs ehrenrührig. Das Beispiel wiederholt sich so oft, dass es zum gern erzählten Klischee geworden ist. Wohl verdeutlicht es exakt die Gefühlslage: Männer fahren lieber in die Irre, als nach dem Weg zu fragen. Kein Navi und kein Stadtplan können helfen, wenn Frau Beifahrerin nicht genau weiß, ob die Mülheimer Straße vielleicht Mühlweiler Straße, Weilmühler Weg oder Wegheimer Mühle heißt. »Frag’ doch jemand!«, sagt sie dann so einfach. Das aber geht aus vier Gründen nicht: 1. Das Frage-und-Auskunft-Spiel wird mindestens zwei, drei Minuten dauern, während alle Fahrzeuglenker hinter dem Orientierungslosen denken »wieso fährt der Depp nicht?!« 2. Erfreuliche Ausnahmen widerlegen nicht die Regel, dass drei von fünf Passanten keine Ahnung haben. Sie sind selber ortsfremd, der deutschen Sprache nicht mächtig oder wegen mitgeführter kläffender Hunde nicht zu verstehen. Sagt ein Fußgänger kurz und knapp »weiß’ ich nicht!«, hat der ratlose Autofahrer noch Glück. Paare eröffnen meist eine lebhafte Diskussion untereinander, unterbrechen und widersprechen sich, wo das gesuchte Ziel denn nun sei. 3. Sagt ein Einheimischer »ja, weiß ich«, beginnt er meist zu gestikulieren. Dabei entstehen sogenannte Text-Bild-Gegensätze. Sein Mund sagt: »an der, äh, zweiten Ampel«, während seine gespreizten Finger bis fünf zählen, »biegen Sie links ab«, und sein Arm rudert nach rechts. Wem soll man glauben – dem Bild oder dem Ton?
Jemanden fragen zu müssen, kommt Männern einer Niederlage gleich. Ich hab es nicht alleine gekonnt, ich bin zu
blöd, ich bin am Ende mit meinem Latein, bitte helfen Sie mir. Eine unerträgliche Demütigung! Ärgerlicher jedenfalls als eine wiederholte Stadtrundfahrt oder die rätselhafte Ankunft zwischen Fabrikruinen und Lagerhallen. Dass Frauen viel früher und meist ganz unkompliziert um Hilfe bitten, meint nicht, dass sie rechtzeitiger am richtigen Ziel ankommen. Aber es bedeutet, dass sie entspannter dort ankommen!
Bei Zugfahrten werde ich gelegentlich Zeuge, wie die meist jungen ICE-Zugbegleiter und Zugbegleiterinnen bei älteren Männern den Opfer-Modus und das Gefühl der Hilfsbedürftigkeit tunlichst vermeiden. Ich wüsste gern, ob sie das in der Ausbildung lernen oder per Begabung können. Man hört förmlich, was hinter ihren Stirnen gedacht
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