Altherrensommer
wird: »Vorsicht, Graukopf. War mal richtig mächtig. Fühlt sich auch noch so. Mag es nicht, kontrolliert zu werden. Wird aber lockerer, je ernster Du ihn nimmst. Heb’ ja nicht seinen schweren Koffer in die Gepäckablage. Das macht er immer selber. Nur heute nicht, Ischias oder so. Biete ihm Kaffee an, bevor Du den Fehler im Routenverlauf seiner Fahrkarte korrigierst.« Das Gegenteil solchen Schongangs lässt sich beobachten, wenn der ältere Herr mit seiner Frau oder gar im Kreise mehrerer – meist ähnlich betagter – Damen Zug fährt. »Lass den Koffer lieber da stehen!« »Ist das überhaupt Dein reservierter Platz?« »Ich hab’ Deine Fahrkarte sicherheitshalber in meine Handtasche genommen.« »Ist Dir nicht zu warm in der Jacke?« »Soll ich Dir einen Apfel schälen?« Jüngere Mitreisende würde es »nicht wundern, wenn die Frau ihren Mann auf den Schoß nähme und ihm den Rücken klopfte, bis er ein Bäuerchen macht«. Das ist satirisch übertrieben, sicher. Aber mit dem üblichen
Körnchen Wahrheit drin. Denn schon bald sinkt der rundumversorgte Entmündigte in ein gesegnetes Nickerchen.
Alte Männer ertragen das Meiste klaglos, weil sie sich nostalgisch in die Situation ihrer Berufstätigkeit zurücktagträumen. Beide kleinen Schwächen – die Divergenz zwischen Selbstwahrnehmung und Außenwirkung sowie das Kaschieren der eigenen Hilfsbedürftigkeit – wurden im Berufsleben ja praktischer Weise korrigiert. Dass man von den Geschäftspartnern für kompetent, einflussreich und erfahren gehalten wurde, war an erfolgreichen Vertragsabschlüssen, an tragfähigen Geschäftsbeziehungen und letztlich an der Jahresbilanz der Firma ablesbar. Hatte man sich in seiner Wirkung auf andere getäuscht, in seiner Kompetenz überschätzt, an einer Herausforderung verhoben – gab’s vom Chef was auf die Ohren, dann eine berufliche Fortbildung, im schlechteren Fall ein neues Aufgabengebiet und schlimmstenfalls die erste Abmahnung. Ob man als One-Man-Show im Alleingang ein Projekt stemmen sollte oder lieber die Fachkollegen »zu Hilfe bitten«, war unter den gewandelten Bedingungen einer modernen Dienstleistungs- und Kommunikationsindustrie sowieso klar: »Elf Freunde müsst Ihr sein«. Dieses Fußballmotto galt auch für Produktion, Marketing, Vertrieb und Verwaltung. Und weil man nur als »Netzwerk« eine Chance auf Erfolg hat, ließen sich gelegentliche Rat- und Hilfsbedürftigkeit sogar als »Teamfähigkeit« verkaufen, als honorige Demut, als Beweis freundlich bescheidener Kollegialität.
Genial am Berufsleben war außerdem: Es funktionierte als Korrektiv und als Würde-Tanke! Und zwar gleichzeitig. Wackelte
je das Selbstwertgefühl (und dafür bietet das Familienleben mit heranwachsenden oder erwachsenen Kindern reichlich Gelegenheiten), gab’s spätestens am Montagmorgen die Fahrt im Dienstwagen zum reservierten Firmenparkplatz, das ehrerbietige Kopfnicken des Pförtners, das Namensschild an der Tür, die sorgfältig-nachlässig frisierte Vorzimmersekretärin und den vertrauten eigenen Schreibtisch. Für mittelständische Handwerker: Den vertraut riechenden Blaumann vom Haken, den aufgeräumten Werkzeugwagen und den erfreulich blinkenden Anrufbeantworter mit neuen Aufträgen. Trotz allen Ärgers, trotz schwieriger Zeiten, trotz aller Flüche in der Kantine: War das Betriebsklima nicht gerade unterirdisch und die Abteilung nicht von Mobbern und Idioten bevölkert, erwies die Berufstätigkeit der eigenen Seele meist einen wunderbaren Dienst: als Würde-Tanke und Gemüts-Oase. Doch damit ist es bald vorbei. Bei Führungskräften großer Betriebe bisweilen bereits ab 55. Ab 62 oder 65, spätestens mit 67 – für immer vorbei. Dann müssen die Partnerin, die Kinder und Enkel, die Freunde zur Gemüts-Oase werden, die den Seelenvorrat an Bestätigung und Selbstwertgefühl auffrischen.
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KLEINER ÄRGER, GROßE KRÄNKUNG
»Seitdem mein Mann morgens nicht mehr aus dem Haus geht ...« Der Gesichtsausdruck, mit dem eine Frau das sagt, ist derselbe, mit dem sie vor rund dreißig Jahren sinngemäß sagte: »Kleinkinder sind ja so süß! Machen aber auch unglaublich viel Dreck.« Eine Lebensform, die sie sich jahrelang gewünscht hatte und im Prinzip und grundsätzlich beglückend fand, brachte konkret und im alltäglichen Kleinklein ungeahnte, zeitweilig schier untragbare, Belastungen mit sich. Warum huschen ihr jetzt manchmal, zwischen Hinlegen und Einschlafen oder zwischen Aufwachen und Aufstehen Erinnerungen an
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