Altherrensommer
ob trocken wissenschaftlich, seriös feuilletonistisch oder boulevardhaft verbalpornografisch dargeboten – verzichtet auf Prozentzahlen. Auf Statistiken zum Sexualverhalten »der Deutschen«, »der Männer«, »der Singlefrauen«, »der Jugendlichen«, »der Berufstätigen« und, seit etwa dreißig Jahren auch, »der Alten«. 1948 untersuchte Alfred McKinsey (nein, nicht der Unternehmensberater, sondern der Biologe) »das sexuelle Verhalten des Mannes«, 1953 »das sexuelle Verhalten der Frau«. Seit einem halben Jahrhundert werden »McKinseys Normen als die biologischen Tatsachen des Lebens präsentiert«. 55 1966 veröffentlichten William Masters und Virginia Johnson ihr Buch »Die sexuelle Reaktion«. Obwohl das ehrenwerte und zweifellos verdienstvolle
Forscherpaar nur 20 Männer und 11 Frauen über 60 befragt hatte, setzten sie damit Maßstäbe. Jahrzehntelang ein Wort wie Donnerhall: »Masters & Johnson haben gezeigt, dass ...« Ab 1976 erschienen die, vor allem unter Feministinnen, legendären »Hite Reports« der Sozialhistorikerin Dr. Shere Hite. 1981 wunderten sich die New Yorker Gerontologen Bernard Starr und Marcella Weiner in ihrem Werk »Liebe im Alter« dann darüber, wie freimütig Menschen ab 60 sich zur Selbstbefriedigung bekennen (84,9% der Frauen, 76,3% der Männer), von Pornos stimuliert werden (55% der Frauen, 75% der Männer), »dreimal und häufiger pro Woche Geschlechtsverkehr haben« (14,9% der Männer, 10,4% der Frauen) und der Geschlechtsakt dabei »bis zu 30 Minuten« dauert (29% bei Frauen, 25,8% bei Männern). Am meisten aber staunten die Leser: 60,1% der befragten Männer hatten in der Studie nämlich zugegeben, »häufig Erektionsschwierigkeiten« zu haben. – Man fragte sich: Mit welchen Männern erlebten die Damen ihre wunderbaren dreißig Minuten?
Zufall oder nicht: Zur selben Zeit begann die heute 83jährige Soziologin Ruth Westheimer, in Radio- und Fernsehsendungen beiderseits des Atlantiks wortgewandt und witzig Ratschläge für »good sex« zu geben. Weil ihre deutsch-jüdischen Eltern in Auschwitz ermordet wurden und sie mit 20 Jahren als israelische Soldatin im Palästinakrieg verletzt wurde, war ihr ein gewisses Maß an Vorschuss-Respekt in Deutschland sicher. Nicht nur, dass sie herrlich gebrochenes Denglisch mit hessischem Akzent spricht, sie behält auch bei den delikatesten Themen einen Schuss Selbstironie bei. Nie musste Dr. Ruth das Etikett einer »unwürdigen Greisin« fürchten. Meist genoss sie als
»sexiest Grandma on Earth« das schmunzelnde Wohlwollen der Fernsehzuschauer. Dr. Ruth gilt als der quicklebendige Beweis für »Silver Sex after 50«, wie der Titel eines ihrer Ratgeberbücher heißt.
Es dauerte fast 20 Jahre, bis ein nach allen Regeln der sozialwissenschaftlichen Demoskopie ermitteltes Zahlenwerk herauskam über »Das Sexualleben der Deutschen«. Der Erziehungswissenschaftler Professor Norbert Kluge und die 35 Jahre jüngere Diplompsychologin Marion Sonnenmoser von der Universität Koblenz-Landau hatten mit Hilfe des Emnid-Instituts eine – wie sie es zurückhaltend nannten – »repräsentative Momentaufnahme zu Beginn des neuen Jahrtausends« unternommen 56 , die auf 2.400 Befragten im Alter zwischen 14 und 92 Jahren beruhte. Weil »nichtkoitale Zärtlichkeiten« von 62% der Frauen und 38% der Männer als die wichtigste sexuelle Aktivität gewertet wurden und rund 90% beiderlei Geschlechts Liebe und Sex nicht voneinander trennen wollten, spottete der FOCUS damals über eine »verschmuste Nation«. 57 Da Kluge und Sonnenmoser ihre Ergebnisse u.a. nach Bundesländern spezifiziert hatten (am meisten »los« war in Schleswig-Holstein), die 20- bis 30jährigen überproportional stark berücksichtigt und keine spezielle Befragung der über-60jährigen durchgeführt hatten, konnte das Rätsel nicht gelüftet werden, welche Altersstufe am stärksten zu diesem »Romantik-Rutsch« im frühen 21. Jahrhundert beigetragen hat. Nur geringfügig genauer waren da die Untersuchungen des Hamburger »Instituts für Männergesundheit« im Jahr 2008, worin immerhin 10.000 Männer nach ihrem Liebesleben befragt wurden. Dabei ließen die über-40jährigen verlauten, »es« höchstens drei- bis vier
Mal im Monat zu tun. Woraus der Schweizer Männerforscher Prof. Walter Hollstein – ein kämpferischer Männerrechtler am »Institut für Geschlechter- und Generationenfragen« der Universität Bremen – wiederum schloss, »die Zahl a-sexueller Männer steigt beständig
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