Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
habe – selbst immer ausgegrenzt und angezweifelt worden. Und so erfuhr Henri hier Verständnis und Zustimmung. Dennoch wurde der Druck in letzter Zeit sehr groß und so entschloss sich dein Bruder, es allen zu zeigen und die Studien zwei Jahre vor der Zeit zu beenden. Einer seiner Mitschüler, der Anführer unter den Grünmagiern, stachelte ihn an, wenn er schon eine Abschlussprüfung machen wolle, solle er doch gleich die Prophezeiung erfüllen. Ich habe Henri tagelang bearbeitet, sich nicht provozieren zu lassen, doch er war nicht davon abzubringen. Und so entschloss er sich, auf euren Hof zurückzukehren, dort so lange zu verweilen, bis die Schwarzmagier kämen und sie zu besiegen. Wir Lehrenden wussten, dass das Irrsinn war, dass Henri es unmöglich bewältigen konnte. Denn gerade die letzten zwei Jahre an der Universität sind entscheidend, was die Zauberkunst angeht. Doch Henri war wütend und durch all das Gerede vom Auserwählten dachte er, er müsse stark genug sein und es schaffen. Und so starb euer Vater, weil Henri ihn nicht beschützen konnte.“
Miraj machte eine Pause, wohl um Anne die Gelegenheit zu geben, Fragen zu stellen. Doch sie war zu bestürzt über das, was sie soeben erfahren hatte und schwieg. So fuhr Miraj fort. „Wie du dir denken kannst, war niemand willens, Henri bei seiner Reise zu begleiten, doch natürlich musste ein Professor zugegen sein. Als jemand mit völlig anders gearteten Kräften war ich eine denkbar schlechte Wahl, aber ich hatte ja geschworen, Henri zu beschützen. Und so ging ich mit ihm. Natürlich nicht, ohne dass mir ein Zauberbann auferlegt wurde, damit ich nicht die Aufgabe für ihn beenden konnte. Und so hatte ich keine Möglichkeit, aufzuhalten, was auf eurem Hof geschehen ist. Du kannst dir nun vorstellen, dass Henri nach seiner Niederlage nicht gerade glücklich darüber war, die Grenzen des Reichs der Grünmagier zu überschreiten. Ich denke beinahe, er war gar nicht so müde, wie er sagte, er wollte nur die Ankunft hinauszögern.“
Anne schwieg noch immer, ihre Gedanken schweiften umher. Sie hatte Henri immer so um seine Zeit an der Universität beneidet. Und jetzt sah sie, dass er sich dort mit einem Haufen von Problemen herumgeschlagen hatte, von denen ihr nicht das Geringste bekannt gewesen war. „Armer Henri“, sagte sie schließlich nur. „Ja“, entgegnete Miraj. „Leider war er nicht stark genug, um sich gegen seine Mitschüler durchzusetzen. Aber je mehr sie ihn triezten, desto sicherer war er, der Auserwählte zu sein. Und je lauter er das bekundete, desto wütender und eifersüchtiger wurden die Grünmagier. Es war ein nicht enden wollender Kreislauf. Und nun haben ihn die Schwarzmagier gefunden. Das ist eine sehr schlechte Neuigkeit, die wir sobald wie möglich dem Hohen Rat mitteilen sollten. Es tut mir leid, Anne, aber wir werden morgen noch einmal den ganzen Tag durchreiten müssen, bevor wir uns in meinem Haus ausruhen können.“ Anne schluckte, sagte aber schließlich: „Das sehe ich ein.“
Eine Weile saßen sie schweigend da und aßen. Die Gegend hatte anfangs so einnehmend gewirkt, doch nun war sich Anne gar nicht mehr sicher, ob sie hier leben wollte. Wenn die Grünmagier sich schon Henri gegenüber so niederträchtig verhalten hatten, wie würden sie sie dann aufnehmen, wo sie so viele Jahre unwissend unter gewöhnlichen Menschen gelebt hatte – und noch dazu seine Schwester war? Sie beschloss, vorerst weder Miraj noch sonst jemandem zu erzählen, dass sie gezaubert hatte. So bliebe ihr notfalls die Möglichkeit, in ihre Welt zurückzukehren und weiterzuleben, als wüsste sie von nichts. Sie dachte an ihre Mutter, die ein gewöhnliches Leben ebenfalls dieser Welt hier vorgezogen hatte. Vielleicht hatte sie Recht gehabt.
Anne fielen schon beinahe die Augen zu, aber eine Frage musste sie noch loswerden. „Miraj? Glaubst du, dass Henri wirklich der Auserwählte ist?“ Miraj hatte die Augen bereits geschlossen gehabt und schreckte bei ihren Worten wieder hoch. Er antwortete nicht gleich. „Nun“, setzte er an, „Henri beherrscht eine Reihe von komplexen Zaubern und war in vielen Dingen seinen Kommilitonen im gleichen Jahrgang überlegen. Vieles spricht dafür, dass er eines Tages ein außergewöhnlicher Zauberer sein wird.“ Er seufzte tief. „Oder geworden wäre, wenn die Schwarzmagier ihn nicht entführt hätten. Ich will dich wirklich nicht beunruhigen, aber ich bin mir nicht sicher, ob er das überlebt. Es könnte
Weitere Kostenlose Bücher