Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
gesehen und fürchtete, mein Herr würde mich töten, wenn er es herausfände, oder mein Kind nach der Geburt fortbringen. Zusammen mit meiner Zimmergenossin schmiedete ich einen Plan, wie wir entkommen könnten. Wir hatten jeden Tag eine Stunde Freigang im Hof – wohl damit wir bei guter Gesundheit blieben und dem Entführer nicht zur Last fielen. Um das Haus verlief ein hoher Zaun, den wir keinesfalls überwinden konnten. Doch wir verabredeten, dass jede von uns, wenn sie draußen war, an einer versteckten Stelle unter dem Zaun an einem Loch graben würde. Durch das wollten wir schließlich entkommen.
Als das Loch groß genug und der vereinbarte Tag gekommen war, sollte meine Zimmergenossin zuerst hindurchklettern und mir dann helfen, da ich durch meinen beginnenden Bauch bereits etwas schwerfällig war. Sie hatte es beinahe geschafft, als sie mit ihrem Fuß versehentlich den Zaun darüber berührte. Sie zuckte, gab einen Schrei von sich und war auf der Stelle tot. Der Zaun musste mit einem Zauberbann belegt sein. Mir blieb nichts anderes übrig: Ich schob ihren leblosen Körper hindurch und quetschte mich dann selbst durch das Loch. So entkam ich. Ich floh in den Westen und traf auf dem Weg andere Frauen, die ebenfalls den Schwarzmagiern entkommen waren. Einige von ihnen waren schwanger wie ich. Anscheinend brauchten die meisten von uns ein höheres Ziel als unsere Selbsterhaltung, um aus den grausamen Umständen zu fliehen. Wir gründeten ein Dorf. Zu Beginn versteckten wir uns, doch als die ersten Kinder zur Welt kamen, bemerkten wir, dass sie die Kräfte ihrer Väter geerbt hatten.
Bald hörten die Grünmagier von unserer Existenz. Eines Tages kam eine schöne junge Frau mit rotem Haar auf ihrem Pferd und informierte uns, dass unsere Kinder mit 14 Jahren auf eine Universität gehen könnten. Dort würden sie andere Menschen ihrer Art treffen und lernen, ihre Zauberkräfte zu nutzen. Miraj war zu diesem Zeitpunkt erst sechs Jahre alt und beinahe glaube ich, dass er sich bereits damals in Gwynda verliebte.“ Silvia lächelte zum ersten Mal und schien sich erst jetzt an Annes Anwesenheit zu erinnern.
„Ja, so war das damals. Es tat gut, es sich einmal von der Seele zu reden, Anne. Ich möchte, dass du weißt, dass du mir sehr ans Herz gewachsen bist. Und wenn du nicht mehr hier lebst, werde ich dich vermissen.“ Anne versicherte Silvia, sie werde noch eine ganze Weile bei ihr bleiben. Dann ging sie wieder nach oben. Sie fühlte sich so betroffen von Silvias Geschichte, dass sie nur noch schlafen wollte. Sie legte sich gleich hin, fand jedoch keine Ruhe. Die Bilder des eigenen brennenden Hofes und ihres sterbenden Vaters waren wiedergekehrt und ließen sie keinen Schlaf finden. Schließlich kapitulierte Anne, setzte sich erneut an den Schreibtisch, zündete eine Kerze an und nahm sich das Buch „Was geheim ist, bleibt geheim“ vom Stapel.
Kapitel 23: Die Somnia
Anne brauchte nicht lange, bis sie den Absatz über INVISIBEL gefunden hatte. Die einzelnen Zauber in diesem Buch verfügten über Markierungen für die Schwierigkeitsstufen. Anne entnahm der Legende, dass es insgesamt zehn Schwierigkeitsstufen gab. In der Einleitung las sie, dass nicht jeder Zauberer in der Lage war, Sprüche aller Schwierigkeitsstufen zu erlernen. Grundlegend wurde unterschieden zwischen Sprüchen, die von Menschen erlernt werden können, und solchen, die nur Magier beherrschten. INVISIBEL wurde als Schwierigkeitsgrad sechs eingestuft. Anne las den nebenstehenden Text: „Geschichte des Zaubers: Der INVISIBEL-Zauber wird seit dem ersten Zeitalter verwendet, um die Zaubereruniversität Scientia zu verstecken. Er gilt als einer der sichersten Zauber, da bislang kein Gegenzauber existiert und die Schwarzmagier somit niemals Zugang zur Schutzzone jenseits des dritten Steinkreises erhalten dürften.“ Anne las den letzten Satz verwirrt noch einmal. Tatsächlich, hier war nur die Rede vom dritten Steinkreis. Hieß das, dass die äußeren Ringe nicht so stark gesichert waren? Doch ihre Neugier hielt sie davon ab, im Moment weiter darüber nachzudenken.
„Jedes Jahr am Gründungstag der Stadt Viriditas, am 24. Dezember, wird der INVISIBEL-Zauber von den führenden Mitgliedern des Ordens sowie des Hohen Rates in einer feierlichen Zeremonie erneuert. Aus diesem Ritus heraus hat sich das Gründungsfest entwickelt, das seit Beginn des dritten Zeitalters zum größten Fest des magischen Kalenderjahres geworden ist.“ Anne notierte
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