Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
wartete. Sie musste bereits eine ganze Weile hier sein, denn auf dem Tisch standen leer getrunkene Tassen und nur noch spärliche Reste von den Keksen, die Silvia erst kürzlich gebacken hatte. Und doch war sie nicht halb so ungehalten wie an dem Tag, als sie Anne ihre Kleider gebracht hatte. Jana schien einen ganz neuen Respekt vor Anne zu haben. Sie begleitete sie nach oben in ihr Zimmer und schloss sorgsam die Tür hinter sich.
„Anne, ich bin heute mit einem besonderen Auftrag hier“, begann Jana. „Du wirst dich sicherlich darüber wundern, doch wird dir alsbald Verschiedenes klar werden.“ Anne wunderte sich vor allem über die lange Einleitung. „Ich habe dir bereits beim letzten Besuch berichtet, dass ich Mitglied im Orden der Grünmagier bin“, fuhr Jana fort. „Es ist Außenstehenden in der Regel nicht gestattet, die Unterkünfte des Ordens zu betreten. Aber in besonderen Fällen machen wir eine Ausnahme. Und jetzt ist ein solcher Fall eingetreten.“ Jana machte eine bedeutungsvolle Pause und setzte für die nun folgenden Worte ihr feierlichstes Gesicht auf. „Anne, Isadoras Tochter, hiermit lade ich dich ein, den Orden der Grünmagier im Magnolienturm zu besuchen. Du wirst dort von unserer Oberin empfangen. Nachdem dich meine Schwestern mit dem Protokoll vertraut gemacht haben, wird dir die höchste aller Ehren zuteil. Denn du darfst im Magnoliensaal mit der weisen Samira sprechen.“
Jana sah sie erwartungsvoll an. Sie brauchte eine Weile, bis ihr einfiel, dass Anne die Bedeutung dieser Einladung nicht verstehen konnte. Etwas nüchterner fuhr sie nun fort: „Es gibt in Viriditas, ja im ganzen Land, niemanden, der dich um eine solche Ehre nicht beneidet. Die weise Samira ist mächtig und klug. Sie ist die älteste meiner Schwestern und sieht die Zukunft auf eine weite Distanz voraus. Viele Magier wünschen ihr Leben lang vergeblich, zu ihr gerufen zu werden, um von ihr Rat und Lebenshilfe zu erhalten. Sie lebt sehr zurückgezogen und selbst unsere Oberin erfährt von ihr nur Bruchteile ihres immensen Wissens.“ Anne begann zu begreifen.
„Dass sie dich auserwählt hat, zu ihr zu kommen, ist ein Rätsel. Obwohl ich seit meinem letzten Besuch bei dir ja weiß, dass du Kräfte hast. Und nicht zu geringe, wie es aussieht.“ Jana sah ihr jetzt direkt in die Augen. „Wie auch immer, vor einigen Tagen betrat Samira das Büro unserer Oberin und ließ sie wissen, sie wolle Isadoras Tochter sprechen. Wie ich dir bereits bei meinem letzten Besuch erklärt habe, war unsere Oberin sehr erstaunt, denn wir alle wussten nichts von deiner Existenz. Doch die hohe Samira hatte sich noch nie geirrt. Und so beauftragte sie uns Schwestern damit, auszuschwärmen und herauszufinden, wo sie sich aufhält.“ Jana strahlte sie nun geradezu an. „Ich hatte gleich die Vermutung, dass du es sein könntest. Ich ging also nach meinem letzten Besuch hier zur Oberin und sagte ihr, dass ich dich gefunden habe. Und nun will sie dich kennenlernen.“
In Anne arbeitete es. Konnte die weise Samira etwa die Frau aus ihrem Traum sein, zu der sie gesagt hatte, dass sie Isadoras Tochter war? „Wann werde ich zu ihr gehen?“, fragte Anne laut. „Ich werde dich in zwei Tagen im Morgengrauen hier abholen. Ich habe Silvia bereits in Kenntnis gesetzt, dass du eine wichtige Einladung erhalten hast.“ – „Danke“, sagte Anne ein wenig zerstreut. Darauf verabschiedete sich Jana. Gedankenverloren lief Anne die Treppe hinunter, als plötzlich Silvia vor ihr stand. Sie machte sich auf ein Donnerwetter gefasst, doch ihre Pflegemutter sagte nur: „Ich freue mich für dich, dass du zum Orden der Grünmagier vorgeladen wirst. Es sieht aus, als würdest du deinen Platz in der Zauberergesellschaft finden.“ Silvia sah wehmütig aus. Anne ging zu ihr und drückte sie. „Es tut mir leid, dass ich fortgeritten bin, ohne dich um Erlaubnis zu bitten.“ Silvia lächelte sie an, doch es wirkte nicht recht überzeugend in Annes Augen. „Es ist schon gut, Anne. Du wirst erwachsen und wie es aussieht, hast du Kräfte. Bei Miraj war es damals dasselbe. Eben noch war er mein kleiner Junge – bald darauf bekam er eine wichtige Rolle in einer Welt, zu der ich bis heute keinen Zugang habe.“
Silvia blickte an Anne vorbei und schien einen unsichtbaren Punkt an der Wand zu fixieren. Anne verstand ihr Dilemma, war jedoch im Moment leider nicht in der Lage, die richtigen Worte zum Trost zu finden. Sie setzte Silvia in Kenntnis, dass sie einige
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