Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
hinunter in die Küche, wo Silvia bereits das Mittagessen kochte. Anne war erstaunt, wie lange sie geschlafen hatte. Silvia sagte nichts und gab ihr Fleisch und Gemüse auf den Teller. Nachdem beide eine Weile vor sich hin gekaut hatten, fragte Silvia: „Du hast nicht zufällig meinen Spiegel gesehen?“ Anne berichtete von ihrem kleinen Experiment und dem seltsamen Resultat. Silvia machte ein erschrockenes Gesicht: „Anne, ich will dir ja nicht den Spaß verderben, aber soweit ich mich erinnere, sind solche Experimente nicht ungefährlich. Was ist denn, wenn du dich versehentlich unsichtbar machst und dann nicht mehr zurückkannst?“ Sie beruhigte Silvia, dass die Wirkung des Zaubers ja nach einer Weile von selbst verflog, doch Silvia blieb skeptisch. Anne musste ihr versprechen, sich diese Dinge lieber von einem erfahrenen Zauberer zeigen zu lassen. Gut, dass sie nichts von den Ereignissen auf der Flucht in die Schutzzone wusste.
Nach dem Essen nahm Anne erst einmal ein Bad, bevor sie sich erneut zum Lesen auf ihr Zimmer zurückzog. Morgen würde Jana sie abholen und zum Orden bringen, da musste sie einen guten Eindruck hinterlassen. Anne legte sich für den nächsten Tag schon einmal ihr bestes Kleid heraus – jenes, das sie von Miraj für ihren ersten Tag bekommen hatte. Dabei fiel ihr Silvias Bemerkung über Mirajs Sorgen wieder ein, doch sie konnte sich noch immer keinen Reim darauf machen. Sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass er mit Jana liiert war, und da er sie immer noch nicht besucht hatte, war es wohl besser, im Moment nicht an ihn zu denken.
Es wurde draußen bereits dunkel, bis Anne endlich die Ruhe fand, sich wieder an ihre Bücher zu setzen. Sie zögerte einen Moment, mit welchem Buch sie weitermachen sollte, doch schließlich siegte ihre Neugier und sie entschied sich für „Sind Sie eine Somnia?“. Dabei musste sie an Jamiro denken, der so begeistert auf diese Fähigkeit reagiert hatte. Sie lächelte und dachte, dass es sicher von Vorteil wäre, sich mit Jamiro anzufreunden. Sollte sie tatsächlich eines Tages an der Universität aufgenommen werden, hatte sie schon einmal einen Verbündeten.
Schließlich klappte sie das Buch auf. Es zog sie dermaßen in ihren Bann, dass sie viele Stunden nicht aufhören konnte zu lesen. Erst als sie auf der letzten Seite angelangt war, blickte sie wieder auf. Sie fühlte sich sehr zufrieden. Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Eine Somnia, so hieß es in dem Buch, hatte bereits im Kleinkindalter Träume, die auf die Zukunft verwiesen. Sie neigte zum Schlafwandeln und verfügte über die Fähigkeit, in ihren Träumen andere magische Personen nicht nur zu sehen, sondern tatsächlich zu treffen. Ob diese Personen sie ebenfalls in ihren Träumen sehen konnten, hing von deren eigenen magischen Fähigkeiten ab. Somniae waren fast immer Frauen – wenngleich das Buch einige prominente Ausnahmen aufzählte – und so erinnerten sich Männer, denen sie in ihren Träumen begegneten, im wachen Zustand nahezu nie an sie. Das erklärte also, warum Miraj Anne nicht gekannt hatte.
Was Jamiro ihr erzählt hatte, nämlich dass eine Somnia automatisch hellseherische Fähigkeiten habe, stimmte indes nicht. Stattdessen hieß es: „Aufgrund ihrer Neigung zu visionären Träumen sind diese Magier manchmal in der Lage, auch am Tag Visionen zu empfangen. Dazu gehören ebenfalls Visionen von den Gedanken der sie umgebenden Personen. So ist es in Einzelfällen möglich, dass die Somnia erkennt, was ein anderer Mensch im selben Raum denkt. Dies gelingt jedoch nur, wenn diese Gedanken mit starken Gefühlen verbunden sind.“ Deshalb also hatte sie Janas Gedanken über ihre Liebe zu Miraj sehen können – und Mirajs Gedanken, die um Henri kreisten, der für ihn beinahe wie ein Sohn war.
Es hieß weiter in dem Buch, dass die Somnia-Fähigkeit vererbt wurde und in der Regel nichts damit zu tun hatte, wie groß die magischen Kräfte ansonsten waren. Eine außergewöhnlich gute Magierin aber könne mit entsprechender Schulung ihre Spezialkraft einsetzen, um Gefahren in der Zukunft rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden.
Anne hatte längst nicht jede Passage des Buches verstanden und doch begann sie zu ahnen, dass sie hier eine Fähigkeit an sich entdeckt hatte, die ihr eine kaum abschätzbare Macht verlieh. Sie war überwältigt von dem Gedanken, in die Köpfe der sie umgebenden Personen sehen zu können. Doch gleichzeitig befiel sie eine Angst, die sie sich nicht erklären
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