Altstadtfest
war er wenigstens nicht mehr einsam auf seinem Kreuzweg. Der führte die beiden von einem Schlamassel zum nächsten, immer eine Sprosse weiter die Lebensleiter hinab. Gerade wenn Robert glaubte, er spüre festen Boden unter den Füßen, bekam er wieder einen Stiefel ins Kreuz, und es ging eins tiefer. Hatte er mal eine Freundin, fand die einen Besseren und ließ ihn fallen. Man hätte Mitleid mit dem Knaben haben müssen, wäre er nicht so ein verkorkster Charakter, der Konflikte durch Weghören oder Weglaufen löste. Meistens Letzteres. Gut, dass ihm wenigstens sein Hund folgte. Solange er den besaß, war Robert noch nicht am Ende der Leiter angekommen.
der nebel ist endlos, alles verschwimmt. robert richtet sich auf. allein ist er und fühlt sich doch stark und hart wie nie zuvor. er lädt den toten hund auf seine schultern. noch immer ist das fell warm, und warmes blut rinnt ihm in den nacken. seine schritte teilen den nebel, er geht langsam über die straße, zur stillgelegten schlosserei, an niedrigen holzbaracken vorbei, überquert einen hof, an dessen rändern sich der abfall türmt, dann eine sumpfige wiese, erreicht den fluss, der von weiden und pappeln gesäumt ist. dort legt er das tier an den fuß eines schrundigen baumstamms, legt es auf wurzeln, bedeckt es mit zweigen. der fluss ruht träge in seinem bett, träge und unheimlich. robert bleibt lange am ufer stehen, wartet auf ein ereignis, das nicht eintritt, wartet, bis der nebel so dicht wird, dass er in seinem ohr zu sprechen beginnt.
»Bitte?«, entfuhr es mir. »Ich habe noch nie erlebt, dass Nebel spricht.«
»Ich schon«, antwortete Usedom pikiert.
»In deiner Drogenzeit?«
»Danach auch.«
Ich zuckte die Achseln. Freiheit des Dichters, okay. Aber Nebel sprach nicht. Jedenfalls nicht der, den ich kannte. Viele Dinge sprachen, denen man es nicht zutraute: Der Regen plauderte, Laub flüsterte, der Wind klagte, Stürme heulten. Nebel nicht. Musste eine Privaterfahrung sein, von der Usedom da zehrte.
Wir folgten der steil ansteigenden Mühltalstraße und bogen vor der Waldschranke rechts in den Chaisenweg. Die Scheinwerfer des Fords erfassten Buchenstämme und Unterholz, dann wieder den löchrigen Asphalt der Straße. Usedom blickte nur kurz von seinem Manuskript auf.
Auf so einer einsamen Straße war es, dass Roberts Köter von einem Lkw überfahren wurde. Es musste ja so kommen – um einmal den Leserbrief aus den Neckar-Nachrichten zu zitieren. Robert hatte ihn nicht gelesen, sonst hätte er besser auf das Tier aufgepasst. Dass der Lkw für ein Lebensmittellager fuhr, in dem Robert zu Beginn seines Abstiegs gearbeitet hatte, vervollständigte das Unglückspuzzle.
stimmen im ohr, blutmale auf stirn und wangen, kehrt robert zurück. im haus, auf der treppe, begegnet er einer nachbarin, die erschreckt ausweicht. er betritt sein zimmer, öffnet den kleiderschrank und entrollt ein handtuch, das auf dessen boden liegt. darin zwei revolver.
später wird es heißen, ein verrückter sei mitten in der nacht die hauptstraße auf und ab patrouilliert, in jeder hand eine waffe, mit blutverschmiertem gesicht. ein verrückter. niemandem aber wird auffallen, denn kein zeuge kommt nahe genug an robert ran, dass der junge die lippen bewegt während seiner einsamen wanderung durch die stadt. er antwortet den stimmen, die er hört, er spricht mit ihnen, fragt sie, was er tun soll, warum er es tun soll, fragt nach dem sinn des sinnlosen, und die stimmen sagen es ihm: weil sich der mensch den menschen untertan macht. weil dies gesetz ist. weil jeder danach lebt und stirbt. so lautet das gesetz, und das blut der kreatur ist seine schrift. später wird es heißen, er müsse sich stark gefühlt haben mit den beiden geladenen revolvern, doch in wahrheit entspringt roberts stärke allein den frischen tätowierungen auf stirn und wange.
der erste, den er niederschießt, ist ein kinobesucher, der im nachhauseschlendern seine freundin um die hüfte fasst. die frau, an der schulter getroffen, wird zu einem knäuel von schreien. achtlos geht robert an ihr vorbei. er hat keine munition zu verschwenden. dann ein unvorsichtiger älterer passant, der die schüsse gehört, ihre bedeutung aber nicht verstanden hat. er wird in den unterleib getroffen und windet sich noch minutenlang auf dem pflaster. einen radler erwischt eine kugel im vorüberfahren. er stürzt heftig aufs gesicht, kann sich jedoch in sicherheit bringen. aus dem zweiten stock eines wohnhauses schaut eine
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