Altstadtfest
Außerdem habe ich den Anschlag nicht vorweggenommen. Amokläufe gab es vorher und wird es in Zukunft geben. Unabhängig davon, was wir Autoren schreiben.«
»Und diese Erzählung ist für dich so eine Art Vergangenheitsbewältigung? Ausgelöst durch Beatrice?«
»Wenn du es so nennen willst, ja. Wie gesagt, es geht nicht um mich …«
»Sondern um Robert, Robert.«
»Um einen, dem die sozialen Sicherungsseile gekappt werden. Eins nach dem anderen. Und irgendwann: bumm!« Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus. »Komm, ich will dir was zeigen.«
Tolle Idee. Es war stockfinster draußen, nur von unten schimmerten die Lichter der Altstadt herauf.
»Bei dir unterm Sitz müsste eine Dings rumliegen, eine Taschenlampe.« Er warf die Tür zu.
Es war eine Stablampe, und sie funktionierte sogar, wenn man sie schüttelte. Ich stieg aus und leuchtete in das blasse Schriftstellergesicht. Abwehrend hielt sich Usedom die Hand vor die Augen.
»Da rüber«, sagte er und ging voran. »Zum Turm.«
Hier oben im Wald war es mindestens fünf Grad kälter als in der Stadt. Der schmale Aussichtsturm lag direkt vor uns. Bei Tag sah er aus wie klassisches Schachspielzubehör: stabiler Sockel, runder Sandsteinleib und oben eine hübsche Zinnenhaube. Bloß um die Hüften fehlte ein bisschen Speck. Usedom erklomm als Erster die Stufen, die auf den Sockel führten.
»Schau, da!« Er zeigte nach oben.
Der Strahl meiner Lampe erfasste eine Gedenktafel aus rotem Sandstein: »Entworfen von … ausgeführt von …« Dann ein paar Namen, Jahreszahlen. Ein Teil der Inschrift war unleserlich.
»Hier haben wir die Panzerfaust ausprobiert«, sagte Usedom. »Mit Übungsmunition natürlich, mitten in der Nacht. Siehst du die abgeplatzten Stellen? Das war ich, aus fünfzig Metern Entfernung.«
»Du willst diese Tafel im Dunkeln getroffen haben?«
»Sie war angestrahlt, was glaubst du? Damals habe ich mich stark gefühlt. Wer stark ist, denkt nicht nach. Komm, wir gehen hoch.« Er stieg weiter. Vom terrassenartigen Sockel führte eine Wendeltreppe ins Innere des Turms. Oben angekommen, empfing uns kühler Ostwind, der für eine sternklare Nacht sorgte. Die Augen hatten sich mittlerweile so an die Dunkelheit gewöhnt, dass man fast auf das Licht der Lampe hätte verzichten können. Aber dann wären einem die Burschenschaftsembleme auf der Mauer entgangen: Graffiti der Korporierten, die hier wohl so manchen Zapfenstreich abhielten.
»Prost!«, sagte Usedom. »Auf dich, Max!«
Der Kerl hatte doch tatsächlich eine Flasche Whisky in der Hand. Weiß der Himmel, wann er die eingesteckt hatte! Als er trank, brach sich der Strahl der Taschenlampe im grünen Glas der Flasche.
»Talisker ist mein Lieblingswhisky«, sagte er und reichte sie mir. »Ehrlich!«
Ich tat ihm den Gefallen und trank mit. Heute war ich sein Opfer, sein Sparringspartner, ein willenloses Objekt. Immer, wenn er mir über wurde, wenn ich ihn gerne aus der Wohnung, aus dem Auto oder vom Turm befördert hätte, kam mir das Frettchen in den Sinn. Keine Ahnung, warum. Ich sah Spechts Hand zum Geldbeutel greifen, den Geldbeutel zücken. Seine letzte Handlung. Sein letzter Gedanke: Reicht das Kleingeld? Schon seltsam, wie sich mancher von uns aus der Welt verabschiedet.
Der Mann mit dem Schal und der Mütze hatte nicht auf mich geschossen. Getroffen hatte er mich trotzdem. Ich zog die Schultern nach oben. Die Windböen ließen einen frösteln.
»Kannst du dir das vorstellen, Max?«, fragte Usedom, ein Kichern unterdrückend. »Dass wir das Schloss beschießen wollten?«
Ich knipste die Lampe aus und sah hinüber, auf die andere Seite des Tals, wo die berühmteste Ruine der Welt in einer Wolke orangegelben Lichts schwebte. »Beschießen? Von hier aus?«
»Ach was, doch nicht von hier oben. Von drüben aus dem Wald. Ungefähr so, wie es die RAF später mit diesem General machte, als sein Wagen am Karlstor hielt.« Er nahm mir die Flasche aus der Hand und bediente sich. Unter uns lag der östliche Teil der Altstadt mit Karlstorbahnhof, Rathaus und Marktplatz. Der Blick nach Westen wurde durch den Wald begrenzt. »Und wahrscheinlich«, fuhr er fort, »wäre unser Sturm auf das Schloss genauso fehlgeschlagen wie das RAF-Attentat. Ganz sicher sogar. Wir hatten ja keinen Plan, nur ein paar spinnerte Ideen und den Wunsch, etwas Spektakuläres zu machen.«
»Das ist euch gelungen. Auch ohne Schloss.«
Er zuckte die Achseln.
»Wo passierte das Unglück mit der Bombe?«
»In
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