Altstadtfest
ich den Zugfahrplan. Den hatte er auswendig gelernt, also musste ich das nicht tun. Vielleicht die Adressen sämtlicher Mini-Cooper-Vertragshändler in der Region? Dann doch lieber die Neckar-Nachrichten von gestern, die mit der Wochenendbeilage. Ich war gespannt, ob nach der Lektüre von Usedoms Erzählung ein Schrei der Empörung durchs Neckartal hallen würde. Fenster runter, Ohr nach draußen – kein Schrei. Ah, sie hatten endlich Marc Covets Artikel über diesen Aktienjongleur gebracht. Auf dem Foto schaute er genauso dämlich drein wie ich am Mittwoch. Das war aber auch schon unsere einzige Gemeinsamkeit. Weder besaß ich ein Penthouse in der Weststadt noch eine private Golfanlage in Cornwall und schon gar keine skandinavische Lebensgefährtin. Den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Börse AG hatte ich auch nicht zum Rücktritt gezwungen. Ja, der Duft des Erfolgs. Lecker, lecker. Fast gönnte man ihn dem Kerl, so sympathisch kam er in Covets Porträt rüber.
Trotzdem machte mir eine Sache zu schaffen. Stirnrunzelnd ließ ich die Zeitung sinken und schaute aus dem Fenster. Da war was. Ein Name, den ich schon einmal …
Im nächsten Moment lag die Zeitung im Fußraum.
Schlaf nicht ein, Max! War das da vorne ein weißer Kadett, oder war es keiner? Schlüpfte aus der Hofeinfahrt, Blinker links, raus auf die Kußmaulstraße und vor zur Bergstraße. Dort verschwand er Richtung Neckar. Und ob das ein Kadett war!
Ich warf den Motor an und verließ die Parklücke mit Vollgas. Von wegen Zicken, Gertrud war folgsam wie ein Dressurpferd. In der Bergstraße angekommen, sah ich den Kadett etwa 100 Meter vor mir. Unmöglich zu sagen, wer am Steuer saß. Ein Mann, ja, und er war allein. Auf Abstand bedacht, folgte ich ihm. Am Ende der Straße bog er ab und ordnete sich an der Ampel links ein, Richtung Innenstadt.
Zwei Fahrzeuge ließ ich vor, um nicht direkt hinter dem Unbekannten zu stehen. Es wurde Grün, wir erreichten die Theodor-Heuss-Brücke, der Verkehrsfluss nahm ein wenig zu. Zügig passierten wir den Bismarckplatz. Gut so, mein Junge. Schau nach vorne, kümmere dich nicht um das, was hinter dir geschieht. Dann nach rechts in die Bergheimer Straße, immer geradeaus bis zur Montpellierbrücke. Ich suchte hinter einem Geländewagen Schutz, stoppte, als der abbog, und ließ einen Kleintransporter überholen. Wir überquerten die Bahngleise, hielten uns wieder links. Der Kadett wurde langsamer. Es ging an Autohändlern und einem Bordell vorbei, an heruntergekommenen Häuserblocks und einem Wasserturm. Auffällig viele amerikanische Wagen parkten hier, die Hauseingänge waren graffitibesprüht.
Dann endete die Jagd. Der Opel hielt vor einer weiteren Gebrauchtwagenhandlung. Ich zog vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu verringern, und scherte erst 200 Meter weiter vor einem parkenden Lkw ein. Über den rechten Außenspiegel hatte ich den Kadett im Blick.
Zunächst passierte nichts. Genau wie ich schien der Unbekannte zu warten. Oder er tat etwas, was von hier aus nicht zu erkennen war. Es dauerte fast fünf Minuten, bis er ausstieg: schlank, hochaufgeschossen, in der Hand einen Lederkoffer. Irgendwie sah er anders aus als vorhin. Er ging ein Stück in Fahrtrichtung, dann wandte er sich nach rechts und verschwand in einer kleinen Sackgasse.
Was tun? Wenn ich wissen wollte, was er vorhatte, musste ich hinterher. Riskant war das. Er kannte mich. Sobald er mich sah, wusste er, dass ich ihm folgte. Und ich wusste, dass die Jungs von der Arischen Front bereit waren, für ihre Tarnung zu morden.
Aber sitzen bleiben? Unmöglich. Ich stieg aus und arbeitete mich im Schutz parkender Autos zu der Sackgasse vor. Als ich sie endlich erreicht hatte, spähte ich mit klopfendem Herzen um eine Hausecke.
Da stand er. Mister X. Vielleicht 50 Meter entfernt, am Ende der Sackgasse. Vor einem schäbigen Mehrparteienhaus mit gallig grüner Fassade. Und er trug einen Vollbart.
Der Mörder des Frettchens.
Ich sah, wie er einen kleinen Gegenstand aus der Tasche zog und die Haustür aufschloss. Er trat ein und war verschwunden.
Stille herrschte in der Sackgasse.
Mein Herz schlug heftiger als zuvor. Der Mörder vom Bootsanleger und mein Beschatter waren identisch, also doch. Was ein falscher Bart alles ausmachte. Er trug auch seine Schirmmütze und den Schal. Wie vor drei Tagen, als er Rüdiger Specht erschoss.
Ob er wieder auf Menschenjagd ging?
Ich wartete. Nervös, unentschlossen. Hinein ins Haus konnte ich nicht. Den Wagen unter
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