Altstadtfest
Unübersehbar die Bemühungen, den Ort des Attentats in eine Wallfahrtsstätte zu verwandeln. Auf einer Länge von zehn Metern lagen Blumen vor den Flatterbändern, Stofftiere und kleine Geschenke stapelten sich zu einem Turm der Anteilnahme. An einer großen Sperrholzstellwand waren Hunderte von Karten, Grüßen und Bildern befestigt worden. Auch die Namen der Ermordeten standen dort. Sie hießen Michael und Werner, Sandra und Beatrice. Einer von ihnen war Rentner gewesen, die anderen junge Leute. Aus dem Odenwald, aus Neulußheim, aus Heidelberg. Sie hatten einen Hund besessen, eine Familie, einen Politiker als Vater. Der Zufall hatte ihre Namen diktiert. Der Zufall und niemand sonst.
»No!«, hörte ich eine mahnende Stimme. Da war er wieder, mein fußlahmer Auftraggeber. Er hasste den Zufall. Der Zufall vermasselte ihm den Wahlerfolg, der Zufall ließ sich nicht kalkulieren und nicht bestechen. Der Zufall machte aus seiner Tochter ein Opfer unter vielen. Das passte ihm nicht. Lieber eine haarsträubende Verschwörungstheorie in die Welt setzen, in der jeder Schritt logisch aus dem früheren hervorging.
Ich beförderte den Signore mit einem Fußtritt vom Uniplatz und wanderte einmal um die Absperrung herum. Im Streifenwagen saßen zwei Polizisten mit Kreuzworträtseln. Der Rheinländer machte Erinnerungsfotos von seiner Frau und den Blumen. Auch die beleibte Dame näherte sich mit ihrer Touristengruppe. Ich versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen, aber es war nicht zu vermeiden, dass ich den Beginn des Vortrags mitbekam. »An dieser historischen Stelle, wo einst der große Reformator Dr. Martin Luther …« Der Rest wurde vom Mittagsgeläut der Jesuitenkirche verhackstückt. »Terroristischer Anschlag« – dong – »wie aus den Medien bekannt« – ding dong – »rechtsradikale Vereinigung« – dong. Dann war ich außer Hörweite.
Ich setzte mich auf eine Bank, mit einer gewissen Distanz zum Geschehen. Ob die Glocken der Jesuitenkirche immer zornig läuteten, wenn von Luther die Rede war? Oder standen sie in Petazzis Diensten? Musste wohl so sein, sonst wären sie der dicken Dame mit ihrem Gebimmel nicht ins Wort gefallen. Von wegen Terroranschlag, gute Frau; ein Attentat auf die Petazzis war das! Und hinter den angeblichen Rechtsradikalen verbargen sich Killer aus Palermo, ding dong. Das glauben Sie nicht? Dann passen Sie jetzt mal gut auf.
Dort hinten, an der Südostecke des Uniplatzes, sehen Sie den Durchgang zum Marsiliusplatz. Den benutzen nur wenige, deshalb eignet er sich ideal für Auftritt und Abgang eines Mörders. Hier wartet unser Mann aus Palermo. Er sitzt auf dem Motorrad, das Visier ist heruntergeklappt, die MP ruht in einer Sporttasche. Festbesucher spazieren vorbei, ohne ihn zu beachten. Ein Motorradfahrer halt. Da kommt das Zeichen seines Kumpels: Die Zielperson steht in der ersten Reihe! Los gehts! Was für ein Zeichen? Das klären wir gleich. Unser Mann ist nämlich schon unterwegs. Er hat die MP aus der Tasche gerissen, rennt zur Bühne. 50 Meter, höchstens. Weg mit der Bühnenplane, und schon steht der Killer neben den Odenthälern. Den Rest kennen wir. In 20 Sekunden ist alles vorbei. Zurück zum Motorrad, rasch die MP verstaut, Vollgas! Zwei Straßen weiter warten seine sizilianischen Kumpels. Finito.
Ich sah, wie die Touristengruppe sich auf den Weg um das abgesperrte Areal machte. Einmal den Tatort von allen Seiten sehen. Ich hatte es ebenso getan, und Hunderte nach uns würden es wieder tun. Die Dicke ging voraus. Sie trug ein rotes Hütchen, mit dem sie auch aus größeren Gruppen herausstach.
Also, haben Sies kapiert? Oder soll ich es noch einmal läuten lassen? Nix Neonazis. Unser Mann spricht italienisch. Seine Auftraggeber sitzen in Mailand, Rom oder Florenz. Wie bitte? Ach so, das Zeichen. Das Signal für den Mörder loszuschlagen. Gut, dass da einer zum Marsiliusplatz rennt, um seinen Kumpel zu informieren, klingt nicht sehr wahrscheinlich. Da vergehen wertvolle Sekunden. Nehmen wir Handys. Die gibt es auch in Palermo. Der Komplize mischt sich unter die Zuhörer, und sobald er Beatrice in Reihe eins sieht, ruft er seinen Kumpel auf dem Marsiliusplatz an. Nein, sie stehen natürlich schon eine ganze Weile in Kontakt, sprechen miteinander, Achtung, sie kommt nach vorne, Reihe zwei, Reihe eins, Attacke!
Nee, auch nicht. Im Publikum befindet sich kein Komplize. Zu gefährlich für ihn. Gefährlich wegen der Streuung der Kugeln, gefährlich aber auch wegen der vielen Zeugen.
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