Altstadtfest
An einen, der Kommandos in sein Handy bellt, wird man sich erinnern. Egal, welcher Sprache er sich bedient. Wenn schon Handys benutzt werden, kann dieser Mann einen ganz anderen Beobachtungsposten einnehmen. Weiter weg, erhöht, irgendwo seitlich.
Ich sah mich um. Die Bühne hatte mit dem Rücken zur Neuen Uni gestanden, an der Südseite des Platzes. West- und Ostflanke wurden durch Seminargebäude und die Mensa gebildet. Erstere schieden aus; selbst wenn sich dort jemand Zutritt verschaffte, hatte er wegen der Platanen keinen freien Blick auf den Platz. Die Mensa dagegen war hoch genug. Vom obersten Stockwerk waren Bühne und Publikum einsehbar.
Plötzlich wurde ich hellhörig. Da war ein Geräusch, das nicht hierher gehörte. Ein fernes Brummen, anschwellend. Die Triebwerke eines Flugzeugs. Auch die Touristen waren aufmerksam geworden, wandten den Kopf.
Es war bloß ein Flugzeug, natürlich. Auch damals in New York waren es bloß Flugzeuge gewesen. Über Heidelberg bestand meines Wissens ein Flugverbot. Hubschrauber ja, aber keine Passagierflugzeuge, keine Transportmaschinen. Nun kam der Vogel in Sicht, aus nördlicher Richtung: ein schneeweißer Pfeil, der sich in die Himmelsbläue bohrte. Eine Boeing 747, wenn man nüchtern veranlagt war. Ein Ferienflieger. Eine Terrorwaffe.
Galt das Überflugverbot nicht mehr? Konnte der Pilot keine Karten lesen? Ich folgte dem Flugzeug mit den Augen, bis es hinter den Gebäuden im Westen des Uniplatzes verschwand. In einer Lücke zwischen den Dächern tauchte es wieder auf, um dann endgültig Abschied zu nehmen.
Ein Ferienflieger also, keine Waffe. Wenigstens noch nicht.
Mein Blick blieb in der blauen Aussparung zwischen den Dächern hängen. Links die Mensa, rechts ein Privathaus. Dazwischen ein Flachdach. Auch von dort oben hatte man unverstellte Sicht auf den Uniplatz. Mit einem Fernglas konnte man jede Einzelheit am Boden verfolgen. Vielleicht gab es ja eine Möglichkeit, auf das Dach zu gelangen. Es war sicher leichter, als sich Zutritt zur Mensa oder zu einem der anderen Häuser zu verschaffen.
»Bravo, Härr Kollär!« Das war natürlich Signor Petazzi mit seiner delikaten deutschen Aussprache. Mein Fußtritt von vorhin schien ihm nichts ausgemacht zu haben.
»Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Ich denke bloß eine bescheuerte Theorie konsequent zu Ende. Weil ich dafür bezahlt werde, aus keinem anderen Grund.«
»Na also«, entgegnete Petazzi, jetzt ohne Akzent und mit der Stimme von Wolfgang Nerius. »Machen Sie weiter, überprüfen Sie alle denkbaren Varianten.«
»Schon dabei.« Ich stand auf und ging quer über den Platz zu dem Haus mit dem Flachdach. Auch die dicke Madame hatte zum Aufbruch geblasen. Von sizilianischen Auftragskillern hatte sie ihrer Gruppe zwar nichts erzählt, aber vielleicht hob sie sich die für den Karzer auf.
Im Erdgeschoss des Hauses logierte die Universitätsbuchhandlung Ziehank. Linkerhand führte ein Durchgang in einen bemerkenswert hässlichen Innenhof. Renaissance- und Siebzigerjahrefassaden, Arztpraxis, Mensa und mittelalterliches Türmchen, alles hübsch durcheinander. In diesem Gemischtwarenladen der Architektur fiel eine überdimensionierte Außentreppe nicht weiter ins Gewicht. Auch wenn sie aus Vollbeton bestand. Sie zog sich an der Rückwand des Hauses mit dem Flachdach bis in die oberste Etage und war frei zugänglich. Für jedermann.
Warum nicht ausprobieren? Langsam begann ich mit dem Aufstieg. Ich schaute nach unten, aber keiner von den Studenten auf dem Weg zur Mensa beachtete mich. Also stieg ich weiter. Beim Heidelberger Herbst dürfte es weniger Publikumsverkehr gegeben haben als jetzt, in der Mittagszeit. Und selbst wenn man gesehen wurde: Da ging halt jemand diese Treppe hoch. Mehr nicht.
Sie endete im dritten Stock vor einer verschlossenen Tür. Links führten die Sprossen einer Feuerleiter weiter nach oben. Wieder der Blick nach unten. Niemand gab acht. Ich schwang mich auf die Betoneinfassung der Treppe und erklomm die Leiter. Fünf Sekunden später stand ich auf dem Flachdach.
Eine rechteckige Fläche, Kiesschüttung über Bitumen, begrenzt von einer niedrigen Mauer. Rechts und links die Giebelwände der Nachbarhäuser. Ich trat nach vorne, an den Rand des Dachs, und kniete mich hin. Man hatte wirklich einen phänomenalen Überblick. Nicht nur über den Uniplatz, sondern auch auf die Dächer der Altstadt, aufs Schloss, weit hinein ins Neckartal. Groß fühlte man sich hier oben, überlegen, mächtig.
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