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Altstadtfest

Altstadtfest

Titel: Altstadtfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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stieg hinten ein, ohne mich zu setzen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, der Anrufer werde kommen. Ein Bauchgefühl. Und wenn er kam, hatte er auch etwas zu verkaufen. Fragte sich nur, was es wert war.
    Ich sah mich um. Mit mir nahmen etwa 20 Personen die Dienste der Oberrheinischen Eisenbahngesellschaft in Anspruch. Lauter unauffälliges Personal: ältere Herrschaften, Rentner in Hemd und leichter Jacke, frisierte Damen mit vollen Einkaufstaschen, ein paar Jugendliche, Mütter und Kinder, Mädchen mit Schulranzen. Auf den ersten Blick keiner, der sich mit der Arischen Front in Verbindung bringen ließ. Was immer das für eine Bande war.
    Wir ruckelten los, über den Neckar Richtung Norden. Tiefgrün leuchtete der Hang des Heiligenbergs. In Neuenheim stieg ein Glatzköpfiger in meinem Alter ein: Laufschuhe, Sportdress, ein Gürtel mit Trinkflaschen. Sein grimmiger Blick mochte von der Anstrengung herrühren. Kurz danach, in Handschuhsheim, leerte sich der Zug beträchtlich. Kinder und volle Einkaufstaschen wurden nach Hause gebracht, man legte sich für ein Nickerchen aufs Sofa oder berichtete den Daheimgebliebenen, wie es in der Stadt so zuging. Ein Junge mit Musikinstrument stieg zu, eine türkische Großfamilie, weitere Rentner. Hinten gab es immer noch kein Plätzchen alleine, also blieb ich stehen.
    Für die prallen Odenwaldhänge rechter Hand hatte ich keinen Blick, zu sehr war ich in die Beobachtung meiner Mitfahrer vertieft. Vor mir drehte sich alles um Krampfadern. Wie man sie bekam, wie man sie vermied, wie man sie wieder los wurde. Der Endzweck des Daseins schnurrte auf die Bekämpfung der Krampfader zusammen. Nicht zu viel sitzen sollte man und wenn, dann gerade. Bewegung war wichtig. Und Ernährung, die sowieso. Vor allem nicht so viel sitzen. So sprach das Volk in der OEG und saß und saß, während ich mir die Beine in den Bauch stand.
    Ringtausch in Schriesheim: Die Krampfadern verließen den Zug, der Sportler und die türkische Familie ebenso, neue Passagiere strömten herein. Bevor sie mir die frei gewordenen Plätze wegnehmen konnten, setzte ich mich. Niemand leistete mir Gesellschaft. Ein kräftiger Mann warf mir einen prüfenden Blick zu, bevor er sich etwas entfernt niederließ und eine Zeitung auspackte. Vier Kinder wuselten durch den Gang, gefolgt von einem Alten, der sich mithilfe seines Stocks vorwärtstastete. Wieder junge Mütter mit Nachwuchs.
    Schriesheim Nord: Jetzt wurde es interessant. Da stieg ein mickriger Typ zu, der mich an ein Frettchen erinnerte, sein Blick glitt kurz über mich, aber dann ging er doch nach vorne. Als ich ihm noch nachsah, stand plötzlich ein Kerl mit kurz geschorenem Haar und einer monströsen Unterarmtätowierung neben mir. Schwer ließ er sich auf den Sitz gegenüber fallen.
    Ich musterte ihn unauffällig. Um seinen kräftigen Hals zog sich ein fingerbreites Goldkettchen. Brusthaare bis zum Adamsapfel. Nieten an Ohren und Jeans. Das war keiner, den man zum Nachmittagstee einlud. Aber ein Nazisympathisant? Ich versuchte, ihn mir hektisch atmend vorzustellen. Es ging nicht. So einer kannte keine Hektik. Dazu hätten ihn viele Gedanken auf einmal plagen müssen, und das traute ich ihm nicht zu.
    »Is was?«, brummte er und kratzte sich zwischen den Beinen. Auch die Stimme passte nicht.
    Ich schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Eine Station später stieg er schon wieder aus.
    Und so ging es weiter. Wir erreichten Hohensachsen und Lützelsachsen, ohne dass sich etwas Spektakuläres tat. Das Bemerkenswerteste war der Auftritt eines bleichen Teenagerpärchens in schwarzen Klamotten, die sich die beiden Kopfhörer eines MP 3-Players teilten. Ihre Kaugummi malmenden Kiefer bewegten sich wunderbar synchron, und sie sahen sich nicht ein einziges Mal in die Augen. Stumm, bleich und schwarz waren sie, verbunden nur durch ein dünnes Kabel, durch das Musik von Ohr zu Ohr sauste. Als sie ausstiegen, geschah dies gleichzeitig, ohne Blickkontakt, sie zogen sich gegenseitig an ihrem Verbindungskabel aus dem Zug.
    Ich begann müde zu werden.
    Plötzlich stand der untersetzte Zeitungsleser auf und kam auf mich zu. Sofort war ich alarmiert.
    »Entschuldigung«, fragte er mit einer heiseren Stimme. »Wie viel Uhr ist es?«
    »Gleich halb vier«, sagte ich.
    »Danke.« Er setzte sich wieder, schlug mit der zusammengefalteten Zeitung ein paar Mal in die flache Hand und sah aus dem Fenster. In Weinheim Süd stieg er aus. Der also auch nicht. Mein 50.000-Euro-Mann schien zu

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