Altstadtfest
vollen Tablett vorbei. Zwei Handgriffe, und es war etwas weniger voll.
»Bitte sehr, die Herren.« Sie hatte Schluckauf. Außerdem schwankte sie zusehends. Vielleicht hasste sie es, Weinreste wegzukippen, und stellte sich in ihrer Funktion als Servierdame an das Ende der abendlichen Nahrungskette. Meinen Segen hatte sie.
»In München«, sagte Covet, »gab es eine ganze Reihe von Ungereimtheiten, und alle kreisten um die Frage einer Einzeltäterschaft. Der Bombenleger gehörte zur Wehrsportgruppe Hoffmann. Steckte die hinter dem Attentat? Ein Zeuge wollte den Täter kurz vor der Explosion im Gespräch mit anderen gesehen haben. Und da waren Kinder, denen gesagt wurde, sie sollten schnell vom Festgelände verschwinden.«
»Woher weißt du das?«
»Bin ich Journalist oder nicht?«, knurrte er. »Hab mal was darüber geschrieben, zum 25-Jährigen. Jedenfalls wurde der Zeuge als unglaubwürdig eingestuft, kurz danach war er tot. Herzinfarkt. Und die Kinder – waren bloß Kinder. Akte geschlossen.«
»Interessant.«
»Bis heute ist unklar, in welcher Weise der Anschlag geplant war und ob er nicht gründlich missglückte.«
»Du meinst, der Attentäter hätte überleben sollen.«
»Nicht nur das. Auch die politischen Folgen hatte man sich möglicherweise anders vorgestellt. So wie in Bologna wenige Wochen zuvor.«
»Bologna und München? Der Bahnhof und das Oktoberfest? Was haben die miteinander zu tun?«
»Der Anschlag in Italien, das weiß man mittlerweile, war politisch motiviert. Es gab damals eine Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten, Faschisten und der Loge P 2. Ihre Strategie: das Land durch Terror destabilisieren, den Linken die Verantwortung zuschustern, selbst die Macht übernehmen. Bologna war Teil dieser Strategie. So wie viele andere Anschläge in den 70er- und 80er-Jahren.«
»Das ist ja eine richtige Verschwörungstheorie.«
»Aber eine belegbare, zum Teil jedenfalls. Das Netzwerk hat seine Ziele übrigens längst erreicht: Die Faschisten sind an der Macht, die Kommunisten ein Schatten ihrer selbst, das Fernsehen verstaatlicht. Wer Berlusconi hat, braucht keine Bomben mehr.«
»Und du meinst, auf dem Oktoberfest hätte man so etwas Ähnliches vorgehabt?«
»Beweisbar ist das nicht. Die bayerische Justiz hatte jedenfalls kein großes Interesse, Licht in das Dunkel zu bringen. Trinken wir noch einen?«
Ich nickte. Wir wollten eben unsere Gläser klingen lassen, als Musik einsetzte.
10
»Ein Streichquartett«, sagte ich. »Und nun frag mich bitte, woher ich das weiß, ohne hinzuschauen.«
Covet grinste schwach. Seit meinen Ermittlungen im Opernmilieu macht mir in Sachen Musik keiner etwas vor. Außerdem hatte ich vorhin gesehen, wie die vier Damen im hinteren Raum ihre Instrumente auspackten. Natürlich spielten sie irgendetwas Getragenes, Feierliches. Es musste ja passen. Zur Stimmung, zum Anlass, zu dem schwarzen Tischtuch mit den beiden Kerzen darauf. Kein Wort davon, dass Beatrice Petazzi während eines Konzerts der Fidelen Odenthäler gestorben war, mitstampfend, mitjohlend, den ganzen klassischen Quatsch zum Teufel wünschend. Sie konnte sich nicht mehr wehren, also wurde sie posthum verbacht und verbrucknert. Jede Note ein Edelstein, das ganze Stück eine Lüge.
»Beethoven«, murmelte Covet.
Dann eben verbeethovent. Wir waren sitzen geblieben; Marc, der immer noch deprimiert schien, ich, weil ich keine Lust auf Körperkontakt mit Diplomaten und Buxtehudern hatte. Außer uns drängte sich alles nach hinten, ehrfürchtig lauschend, die Miene so ernst wie kennerisch. Im vorderen Raum wurde geräuschlos ein Buffet aufgebaut, durch den mittleren irrlichterte mal wieder die Bedienung.
»Noch zwei Wein!«, flüsterte ich ihr zu. »Einfach so, ohne bitte sehr.«
Sie schaute mich an wie den Mann im Mond, reichte mir aber die beiden Gläser.
»Das ist Beethoven«, sagte ich. »Geile Kiste, was?«
»Geht so«, murmelte sie.
Der Applaus, der dem Stück folgte, war zurückhaltend, wie vom schlechten Gewissen diktiert. Bloß kein Überschwang, bloß keine Begeisterung für eine brillante Darbietung! Lieber klatschte man piano und in Moll.
»Ich danke Ihnen«, ließ sich eine kühle Stimme aus dem Nebenraum vernehmen. »Ich danke Ihnen im Namen unseres Freundes Flavio Petazzi für Ihr Kommen. Keiner von uns konnte ahnen, aus welch traurigem Anlass wir uns einmal hier treffen würden. Der Verlust des einzigen Kindes gehört zu den Dingen, deren Bedeutung wir nicht in Worte fassen können.
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