Altstadtfest
hatte mich immatrikuliert, studierte aber nicht. Lieber Häuser besetzen und den Systemwechsel propagieren. Heute lacht man darüber. Wir fanden es damals nicht zum Lachen. Für uns war das System krank, von innen verrottet: In Stuttgart regierte der Nazirichter Filbinger, Strauß wollte Kanzler werden. Von Heidelberg aus wurden die Kriege der Amis koordiniert. Unsere Idole hatte der deutsche Staat verrecken lassen: Baader und Meinhof hingerichtet, Holger Meins verhungert. So sahen wir es damals. Mit jedem Toten wurden wir radikaler, die Gegenseite übrigens auch. Wir besorgten uns eine Panzerfaust und schossen damit nachts in den Wäldern.«
»Wer ist wir?«
»Eine Handvoll Personen, Frauen und Männer. Wir hatten vor, das Heidelberger Schloss abzufackeln, 300 Jahre nach den Franzosen. Stellen Sie sich mal vor, ich würde das heute jemandem erzählen. Es wäre der Brüller bei jeder Cocktailparty. Aber Pläne dazu gab es.«
»Interessante Idee: eine Ruine zu zerstören.«
»Sie sagen es. Doch dann kam die Fußballweltmeisterschaft, 1978 in Argentinien. Dort hatte sich gerade das Militär an die Macht geputscht, mit dem gesamten Programm: Massenmorde, Entführungen, Folter. Ein lupenreines Terrorregime. Und was tat die BRD ? Ließ ihre Kicker ›Buenos Dias, Argentina‹ singen und schickte sie rüber. Handschlag mit den Generälen inklusive.« Er wechselte die Sitzposition. Kurz spielte ein Lächeln um seine Mundwinkel. »Denken Sie an Peking, die Olympischen Spiele. Was wurde da nicht alles geredet, von wegen Boykott und so. Passiert ist nichts, überhaupt nichts. Uns damals reichte es nicht, bloß zu diskutieren, wir wollten etwas unternehmen. Ich behaupte nicht, dass wir richtig gehandelt haben, im Gegenteil. Wir haben das Falsche getan. Aber das Falsche nicht tun, kann auch falsch sein.«
»Und was haben Sie getan?«
»Wir haben eine Bombe gebaut. Ich besorgte den Sprengstoff, ein Kollege, Michael, bastelte die Bombe. Seine Fahrkarte nach München, zum argentinischen Konsulat, hatte er schon gekauft. Nur den Mechanismus wollte er noch überprüfen. Da ging sie hoch.«
»Das nächste Todesopfer.«
»Schlimmer. Michael hat überlebt. Er lebt heute noch, irgendwie. Ohne Beine, ohne Augenlicht. Seit über 30 Jahren.« Er fegte die Krümel seiner Salzstangen vom Tisch.
»Und wie ging es weiter?«
Er zuckte die Achseln. »Unerfreulich. Ich war der Erste, den sie schnappten. Ein paar von uns setzten sich ins Ausland ab, aber auch die wurden irgendwann erwischt. Es dauerte über ein Jahr, bis es zum Prozess kam. Den Krüppel von Michael hatten sie sofort nach der Operation ausgequetscht und jede Menge Namen in Erfahrung gebracht. Weil aber all seine Aussagen unter Medikamenteneinfluss erfolgt waren, hatten sie juristisch keinen Bestand. Und so ging es hin und her, monatelang. Unter dem Druck fiel unsere Gruppe komplett auseinander. Die Öffentlichkeit hätte uns natürlich am liebsten gelyncht. Vor allem, nachdem man mir die Beteiligung an dem Anschlag nicht nachweisen konnte. Am Ende saß ich noch ein halbes Jahr: wegen unerlaubten Waffenbesitzes, Sachbeschädigung, Drogenvergehens und solchem Mist. Im Grunde stellten sich die Behörden genauso dilettantisch an wie wir.«
»Und die Moral von der Geschicht’?«
»Moral? Keine. Nur dass Sie über Leute, die Sie nicht kennen, etwas weniger rasch urteilen sollten. Aber vielleicht kümmern Sie sich besser mal um Maria, die versucht Ihnen schon die ganze Zeit Zeichen zu geben.« Er wies zur Theke.
Ich drehte mich um.
Der Wirtin aus Sizilien stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Und das, obwohl sie die Sicherheit im Haus hatte. An der Theke lehnte ein grobschlächtiger Kerl in einem Blouson aus schwarzer Ballonseide, auf dem das Wort ›Security‹ prangte. Schwarz waren auch seine Hose und die schräg über die Stirn gezogene Mütze. Ein hässliches Dauergrinsen klebte in seinem Gesicht, während er in einer Speisekarte blätterte. Dass er einen Pferdeschwanz trug und ein verkabeltes Headset im linken Ohr, machte die Sache nicht besser.
Außerdem hatte er eine breite Narbe am Hals.
»Vielleicht kommt jetzt die Moral«, sagte ich zu Usedom und stand auf.
Ich schlenderte zur Theke hinüber und stellte mich neben den Typen, Schulter an Schulter. Er sah nicht einmal auf. Blätterte immer noch grinsend in der Speisekarte. Für ihn war ich bloß ein Luftzug, eine vernachlässigbare Molekülbewegung. Vor ihm stand eine Bierflasche, neben der Flasche lag eine
Weitere Kostenlose Bücher