Altstadtfest
raunenden Ästheten lasse ich mich noch lange nicht stecken. Mir geht es immer um die Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeit, literarisch vermittelt natürlich.«
»Na, dann los, schreiben Sie! Das hier ist gesellschaftliche Wirklichkeit: Leute bringen einander um, Leute schießen einander die Schädeldecke weg. Im Hotel Vier Jahreszeiten bestellt einer gerade Kalbsbries mit Frankfurter Soße, während 50 Meter entfernt zermatschtes Hirn auf den Neckar klatscht. Beim Heidelberger Herbst haben Tausende ihren Spaß und kippen sich einen hinter die Binde, bis ein Maskierter den Uniplatz rassenrein schießt. Eine der beliebtesten Kneipen in der Stadt soll dichtgemacht werden, weil irgendein Bauträger Profit wittert. Das ist brutal, das ist absurd, aber es ist gesellschaftliche Wirklichkeit.«
»Ach?«, fragte er pikiert. »Darüber soll ich schreiben?«
»Ja, natürlich. Warum nicht? Oder schreiben Sie über mich. Ich bin sozusagen das Paradepferd Ihrer Wirklichkeit. Ich habe kein Geld und keine Frau mehr, ich bin Studienabbrecher, warte auf seriöse Aufträge und vertreibe mir die Zeit mit Saufen. Ich bin genervt von mir selbst, und um das nicht zugeben zu müssen, quassele ich den lieben langen Tag über andere. Nur bei Ihnen mache ich eine Ausnahme, aber das kommt davon, wenn man dringend aufs Klo muss.«
»Gute Idee. Irgendwann schreibe ich einen Text über Sie. Versprochen.«
»Um Gottes willen. Warum habe ich das nur gesagt? Vielleicht machen Sie sich schon heimlich Notizen.«
»Keine Angst«, lachte er. »Wenn es so weit ist, gebe ich Ihnen rechtzeitig Bescheid. Im Übrigen ist es seltsam, dass Sie unser Gespräch auf das Schreiben gebracht haben. Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden.«
»Übers Schreiben?«
»Ich habe Ihnen doch mein Manuskript gegeben.«
»Ach, das. Tut mir leid, ich hatte gestern nicht die geringste Möglichkeit, einen Blick hineinzuwerfen.«
»Es wäre mir lieb, wenn Sie es tun würden. Ich brauche Ihre Einschätzung. Sehen Sie, es handelt sich um eine Erzählung, die seit ein paar Wochen in den Neckar-Nachrichten erscheint. Zehn Folgen, immer in der Wochenendbeilage.«
»Ein gutbürgerliches Nachrichtenorgan druckt die Erzählung eines früheren Revoluzzers ab? Sie scheinen ganz schön etabliert zu sein, Herr Usedom.«
»Hören Sie auf. Heutzutage gibt sich jede Zeitung liberal, die etwas auf sich hält. Davon abgesehen, werden die Neckar-Nachrichten keine Freude an meinem Text haben, sobald er erst einmal komplett erschienen ist.«
»Große Keule, was? Eine Abrechnung mit Gott und der Welt?«
»Lesen Sie es einfach.«
»Und was soll ich damit? Ich bin kein Reich-Ranicki.«
»Aber Deutsch können Sie. Und Sie haben ein offenes Ohr für die Vorgänge in der Stadt. Es ist zwar eine Erzählung, aber sie hat eine gewisse gesellschaftliche Brisanz. Da gibt es genau die Revolverszene, die Sie sich in meinen Texten nicht vorstellen können. Mehr will ich dazu gar nicht sagen. Schauen Sie sich das Ding einfach an, es ist nicht sehr lang.«
»Ich werde es versuchen.«
»Beatrice hat den Text auch gelesen.«
»Und? Wie fand sie ihn?«
Wieder lachte er. »Nicht gut. Sogar ziemlich schlecht. In solchen Dingen war sie geradeheraus. Sie konnte meinen Büchern generell nicht viel abgewinnen. Höchstens aus historischer Perspektive. Beatrice gehörte zu einer anderen Generation, die unsere Fragen, die Fragen der siebziger und achtziger Jahre, als veraltet empfand. Widerstand gegen die Staatsgewalt: Das ist für Jugendliche von heute, die den Staat niemals repressiv erlebt haben, kein Thema mehr. Denen geht es um anderes. Um Fragen der Globalisierung, ökologische und ökonomische Probleme.«
»Ich weiß nicht, worum es Jugendlichen geht. Aber wenn Sie das sagen, wird es stimmen. Bei Ihrem guten Draht zum Nachwuchs.«
»Neidisch?«
»Nö.«
»Gut, dann lesen Sie bitte meine Erzählung. Am besten heute noch.«
Endlich gelang es mir, ihn abzuwimmeln. Ich rannte zum Klo, um still vor mich hinzubrüten. Wollte mich der Kerl jetzt täglich sprechen oder treffen? Ich hatte immer geglaubt, Schriftsteller seien zurückgezogene Leute, die mit ihrer Zeit haushielten. Gut, Usedom war in einer beschissenen Situation: Er hatte seine beste Freundin verloren, ein Mischwesen aus Tochter, Geliebter und Gesprächspartnerin, und er verlor sie ein zweites Mal, wenn Petazzi mit seiner Vernebelungstaktik Erfolg hatte. Usedom brauchte jemanden zum Reden. Zum Schreiben würde er erst später, mit
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