Altstadtfest
fragte ich. »Ging das nicht ein bisschen schneller?«
»Nein, ging es nicht!«, bellte Fischer und bekam einen Hustenanfall. »Wir mussten schließlich erst ermitteln, welche Personen zu der Gruppe gehörten. Oder gaben Sie mir eine Liste mit allen Namen?«
»Sie hatten den Bruder von Specht.«
»Ach, und Sie meinen, wir hätten Däumchen gedreht? Spechts Wohnung wurde sofort ausgehoben. Gegen 14 Uhr, falls Sie es genau wissen wollen. Da war der Kerl längst über alle Berge. Seine Kumpane wahrscheinlich auch. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, wir kriegen die. Ist bloß eine Frage der Zeit.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr.«
Er stöhnte.
»Alles klar, Herr Fischer? Was schmerzt diesmal? Wieder das Herz?«
»Die Milz. Wenn es ganz schlimm um mich steht, meldet sich die Milz. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Dass meine Frau, der ich andeutungsweise geschildert habe, was passiert ist, nun denkt, Ihnen allein hätten wir die Enttarnung der Gruppe zu verdanken.«
»Der natürliche Instinkt des Weibes.«
»Dann hoffen Sie mal drauf, dass der Staatsanwalt auch eine Frau ist.«
»Welcher Staatsanwalt?«
»Falls untersucht wird, ob Sie sich bei der Kontaktaufnahme mit Specht korrekt verhalten haben. Rennt mit 50.000 durch die Gegend, ohne uns zu informieren!«
»Ich habe Sie informiert, Herr Fischer!«
»Vielleicht zu spät.«
»Da waren Sie gestern aber anderer Meinung.«
»Gestern schmerzte meine Milz auch noch nicht. Schmerzen schärfen das Denkvermögen.«
»Von wegen. Weil Sie so scharf nachdenken, schmerzt Ihre Milz.«
Unzufrieden beendeten wir das Gespräch.
Ich warf mich in meinen Fernsehsessel und blätterte die Neckar-Nachrichten durch. Dass die Zeitungslektüre meine Laune nicht heben würde, verstand sich von selbst. Aber mir fiel nichts Besseres ein. Außer dem Üblichen: mich aufs Rad schwingen, den Frust aus den Gliedern treten. Später vielleicht. Später.
Die Berichterstattung über den Anschlag vom letzten Samstag hatte an Intensität nachgelassen. Dafür überließ man Volkes Stimme das Feld: eine ganze Seite Leserbriefe zu dem einen beherrschenden Thema. Der Anschlag, seine Folgen, seine Ursachen. Endlich gab es Antworten. Es wurde erklärt, wie es zu dem Attentat kommen konnte, wer eine Mitschuld daran trug, wo die Politik zu lax gewesen war, weshalb sich die Jugend radikalisierte. Fehlende Werte wurden beklagt, fehlende Vorbilder, fehlende Erziehung. Fanatiker, wo man auch hinschaute. Al-Qaida und Arische Front – alles dasselbe. Turbanträger und Neonazis, Surensänger und Hakenkreuzler – eine Soße. Da galt es dazwischenzuhauen. Mit der flachen Hand, dem Hammer, dem großen Besteck. Jeder Brief ein Aufschrei, jeder Satz eine Parole. Nach Stammtischmanier: Faust geballt und Zeigefinger im Anschlag.
»Irgendwann musste es so kommen«, schrieb einer.
Ich legte die Zeitung beiseite und starrte an die Decke. Spießbürgeransichten, zu Leserbriefen geronnen – so konnte man es sehen. Man konnte es aber auch anders sehen. Man konnte behaupten, dass sich hinter all dem wirren Geschreibsel der eine, wiederkehrende Wunsch verbarg: eine Erklärung für das Unerklärbare zu finden. Ein naiver, aber verständlicher Wunsch. Auch ich hätte gerne eine Erklärung gefunden, jemand wie Flavio Petazzi zahlte sogar viel Geld dafür. Dabei wussten wir beide, dass es sie nie geben würde. Niemand würde je in die Köpfe dieser Nazis hineinschauen können, kein Richter, kein Sozialarbeiter, kein Schriftsteller. An anderen Tagen wäre mir das egal gewesen. Heute nicht. Warum eigentlich nicht? Die Menschheit hatte den 11. September überstanden, hatte die Massaker in Ruanda, Kambodscha und Vietnam überstanden und sogar den größten Weltenbrand aller Zeiten, den die Fackeln unserer Großväter entfacht hatten. Längst hatten wir uns daran gewöhnt, den Völkermord zum Frühstück serviert zu bekommen. Genozid im Kongo – reichst du mir bitte die Erdbeermarmelade, Schatz? Vorm »Tatort« verkohlte Bürgerkriegsleichen, nach den Bundesligaergebnissen eine Massenhinrichtung in China. Multitasking im 21. Jahrhundert. Was vermochten da ein paar Mannheimer Deppen mit einer MP ?
Ja, komisch, was vermochten die? Ich fand keine Antwort, weil ich müde wurde. Und weil ich müde wurde, schlief ich ein. Mitten am Nachmittag. Auf meinem Fernsehsessel, die Beine ausgestreckt. Als ich aufwachte, war es bereits dunkel. Mein rechter Arm war ein einziges Nadelkissen. Ich hatte darauf gelegen und war
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