Altstadtfest
etwas Abstand kommen. In einem Jahr vielleicht oder einem halben würde er zur Feder, zur Schreibmaschine, zum Laptop greifen und eine seiner traurigen Geschichten verfassen: über einen Vogel, dem man die Flügel gestutzt, über eine Fee, der man das Lachen geraubt hatte. Ich konnte mir seine Erzählungen nicht anders als traurig vorstellen. Wer sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit abarbeitete, schrieb kämpferisch oder traurig, und Usedom hatte das Kämpfen eingestellt. Daher gab ich auch nichts auf seine Ankündigung, einen wie mich zur Grundlage eines Textes zu machen. Höchstens eines lustigen. Das Traurige liegt mir nicht, ich bin entweder frustriert oder wütend. Als es mit mir und Christine aus war, bekamen ihre Briefe meine Wut zu spüren: Ich verbrannte sie in der Spüle. Die beiden folgenden Tage verbrachte ich im Englischen Jäger. Die Nacht dazwischen auch. Erst danach merkte ich, welche Erleichterungen das Leben allein bot. Ich wurde immer zufriedener. Bei Christine war es genau umgekehrt: Sie flüchtete nach Waldhilsbach und bereut unsere Trennung seither von Tag zu Tag mehr. Traurig ist sie natürlich auch. Ein Fall für Robert Usedom.
Hatte zuletzt nicht jemand behauptet, er habe das Trauern verlernt? Richtig, Usedom selbst. Ach, das passte schon. Seine Texte trauerten statt seiner. Das war doch der Sinn von Literatur: Sublimation. Einer der wenigen Fachbegriffe, die mir von meinem Psychologiestudium noch in Erinnerung sind. Vom Fragment meines Psychologiestudiums, um exakt zu sein.
Ich drückte den Spülknopf, tat all das, was man sonst noch nach ausgiebigem Stuhlgang tut, und verließ die Toilette. Wie sublimierte ich eigentlich, wenn ich schon nicht trauerte? Gute Frage. Ich hatte keine Lust, sie zu beantworten.
Stattdessen rief ich Marc Covet in der Redaktion an. Im Hintergrund hörte ich den dicken Lothar lachen; die Hundeaffäre schien ausgestanden.
»Ganz schlecht«, brummte Covet. »Bin mitten in der Endredaktion eines Artikels. Vielleicht heute Abend?«
»Nur ein paar kurze Auskünfte. Was fällt dir spontan zu dem Namen Robert Usedom ein?«
»Wie kommst du auf den?«
»Ein neuer Bekannter. Also?«
»Geläuterter Linksterrorist, jetzt Autor. Keine große Nummer, auch als Schriftsteller eher zweite Wahl. Aber nicht blöd. Habe ihn mal bei einer Podiumsdiskussion zu 1968 und den Folgen erlebt, da war er der Einzige, der nicht in Selbstbeweihräucherung verfiel.«
»Hast du etwas von ihm gelesen?«
»Nein, nur über ihn. Besprechungen seiner Bücher. Ich glaube, der Mann hat es nicht leicht. Erst sah man in ihm nur den Bombenleger, der einen auf Poet macht, inzwischen interessiert sich für seine Art der Literatur kein Mensch mehr.«
»Sag das nicht. In deiner Zeitung erscheint gerade sein neuestes Werk.«
»Wie bitte? Das wüsste ich.«
»Jeden Samstag eine Folge.«
»Ach so, in unserer Wochenendbefindlichkeitsbeilage. Die lese ich nicht.«
»Solltest du aber. Dann könntest du mir nächstes Mal mehr über ihn verraten. Wie er literarisch einzuschätzen ist zum Beispiel.«
»Seit wann interessiert dich das? Apropos Terrorist: Gibt es irgendeine Verbindung zwischen dem Toten vom Solarboot und dem Uniplatz-Attentat, von der du weißt?«
»Ich dachte, du hättest keine Zeit zum Quatschen.«
»Gibt es oder gibt es nicht?«
»Gibt es. Aber behalte es für dich, sonst komm ich in Teufels Küche.«
»Keine Angst. Das Gefühl, mehr zu wissen als unsere neuen Investigativstars, reicht mir völlig, um diesen Tag mit einem Lächeln auf den Lippen zu beenden. Machs gut!«
Ja, machs gut, du auch. Ich bemühte mich. Irgendwann würde es klappen. Ich überlegte, ob ich mich abends mit Marc treffen sollte, um ihm die Geschichte von gestern haarklein zu erzählen, aber noch so ein Besäufnis konnte ich mir nicht leisten. Außerdem hatte ich gestern Vormittag Rindfleisch gekauft, das verarbeitet werden wollte. Ich legte es in Rotwein, Koriander, Zitronengras und Knoblauch ein und stellte es beiseite. Die Aussicht auf ein Abendessen ganz für mich allein hob meine Stimmung.
Aber schon der nächste Anruf ließ sie wieder sinken. Kommissar Fischer, griesgrämig wie eh und je, informierte mich, was der Schlag gegen die Arische Front gebracht hatte. Nämlich nichts. Sieben Mitglieder der Gruppe waren mittlerweile namentlich bekannt, sie stammten aus dem gesamten Rhein-Neckar-Kreis, und sie waren alle ausgeflogen, als ihre Wohnungen in der Nacht gestürmt wurden.
»Wieso erst nachts?«,
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