Altstadtrebellen
Klein, drollig, gedrungen. Frisur Typ Stadtrandsiedlung, der, so dachte ich mir, doch kurz auf mein Gepäck aufpassen könnte. Aber als ich ansetze, ihn zu fragen, niest dieser Mann, holt ein Taschentuch heraus, schnäuzt sich ausführlich und prüft anschließend eingehend sein Taschentuch.
Ich dachte mir, was schaut der da. Mit dem Blick eines Genanalytikers. Ist das eine andere Form des Kaffeesatzlesens? Soll ich ihn fragen, wie das Wetter wird? Das ist so einer, der alles ganz genau wissen will. Ja, so einer ist das, dachte ich mir. Wenn sich so einer am Bahnhof ein Sandwich kauft, muss er immer den oberen Brötchendeckel abnehmen und genau kontrollieren, was drin ist, aber ganz genau. Ich kenne solche Leute, die, wenn sie im Urlaub am Meer sind, sich davon überzeugen müssen, dass das Wasser immer glasklar ist, damit sie genau sehen, wo sie hinsteigen. Ich bin umgekehrt gepolt, ich bin froh, wenn das Wasser trüb ist, ich will gar nicht wissen, wo ich hinsteige, ich wollte auch noch nie wissen, wie es in so einem Sandwich aussieht. Das will ich essen und weg damit. Das mag riskant sein, aber das ist mir egal.
Ich kann mich manchmal so richtig reinsteigern, das muss der Herr am Bahnsteig wohl gemerkt haben, denn auf einmal dreht er seinen Kopf zu mir, sieht mich an und sagt: »Könnte sein, dass es nächste Woche regnet!«
Arbeiten im ICE-WC
Ich fühlte mich ertappt, und das war mir natürlich sehr unangenehm, aber zum Glück kam bald darauf der ICE 580 Richtung Mannheim. Ich stieg ein, stellte das Gepäck ab und rein ins ICE-WC. Dort aber klebte neben der Tür das Schild:
»Bitte verlassen Sie diesen Raum so, wie Sie ihn selbst gerne vorfinden möchten!«
Wie ich ihn selbst gerne vorfinden möchte! Das war vielleicht eine Arbeit. Bis ich diese ganzen Reinigungsmittel zusammenhatte. Ich habe alles eingeweicht, eingeschäumt und mit Ako-Pads und Schrubber den Urinstein an der Schüssel mühevoll weggeschabt, manches ging gar nicht mehr richtig weg. Da ich immer gern Musik auf der Toilette höre, habe ich meinen eigenen Transistorradio geopfert, einen netten Sender eingestellt. Doch dann stellte sich die Frage nach der besten Lektüre: Was lege ich da hin, dachte ich mir, es gibt doch so viele unterschiedliche Fahrgäste in den Zügen, da kann man nicht lieblos dieses Gratisheft von der Bahn hinklatschen. Vielleicht hat jemand am Tage vorher scharf gegessen, indisch oder mexikanisch, da kann man dann auf keinen Fall ein ADAC-Heft mit Crashtests hinlegen. Eher was Beruhigendes, beispielsweise asiatische Weisheiten: »Bevor du Durst hast, bohre den Brunnen!« So was eher. Dann gibt es so viele Menschen, die Dinge essen, die stopfen. Weißbrot, Schokolade, Bananen. Für solche Leute auf gar keinen Fall den Spiegel oder die Süddeutsche Zeitung hinlegen. Nichts Kleingedrucktes. Denn durch diesen äu ßerst anstrengenden Pressvorgang verschwimmen leider die Zeilen vor den Augen. Da sollte man etwas hinlegen mit großen Buchstaben. Mein erstes Lesebuch, wahlweise die Bild-Zeitung.
Ich habe dann so ein kleines Zeitschriftenensemble zusammengestellt, dachte mir, das geht so einigermaßen, musste dann aber noch unter größten Schwierigkeiten Pflanzen und Blumen aus dem Zugrestaurant klauen, damit etwas Buntes und Frisches da ist. Ich habe das Ganze noch einmal besichtigt und war dann der Meinung, jetzt ist es schön. Es war ja alles improvisiert, mir hat ja vorher keiner was gesagt.
Aber der Erfolg gab mir Recht: Als ich aus der Toilette ging, standen sechs Menschen vor der Tür, die waren offensichtlich alle sehr neugierig und haben sich sicherlich gedacht: Na, jetzt bin ich mal gespannt, wie der es gemacht hat!
So etwas ist ja immer auch eine Art Vernissage. Sind auch gleich zwei auf einmal rein. Doch dann fiel mir ein, dass ich eigentlich aufs Klo gehen wollte. Und der Zug war schon fast in Karlsruhe, in Stuttgart hätte ich aussteigen sollen. So ist das, wenn man in der Arbeit drin ist, vergisst man Zeit und Raum.
In Karlsruhe kam zum Glück auch gleich ein Zug, der zurückfuhr, ich sofort rein, Gepäck abgestellt und rein ins WC. An der Wand hing zwar das gleiche Schild, aber da hat’s mir gereicht. Ich bin doch nicht der Depp von der Bahn. Ich habe so getan, als hätte ich es nicht gelesen. Einfach aufs Klo und fertig. Hat mich beim Rausgehen zum Glück auch keiner erwischt. Und hätte mich jemand erwischt, hätte ich gesagt: »Mei, ich mag’s halt
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