Altstadtrebellen
bloß an das denkt, was er später machen muss.«
» Kein schlechter Gedanke, Placebo!«, erwiderte der Ältere, und ich dachte mir, aha, so heißt der Kleine also. » Kein schlechter Gedanke, Placebo, die Gegenwart als schwarzes Loch. Man plant seine Zeit voraus, um ihr dann hinterherzulaufen. Ist sogar physikalisch erwiesen, die einzige Zeit, die nicht existiert, ist die Gegenwart. Was meinen Sie dazu, mein junger Held?«
Aha, jetzt muss ich da auch noch was Gescheites sagen: »Tja, die Gegenwart, gibt’s gar nicht. Dafür spürt man was.«
Das scheint diesem kleinen Placebo gefallen zu haben, denn nach kurzem Bedenken meinte er: »Ja, da hat er Recht. Was man spürt, ist immer jetzt!«
So haben wir drei uns kennen gelernt, bei diesem ersten gemeinsamen Gespräch. Ich habe später herausgefunden, dass die beiden sich nur unterhalten können, wenn ein Dritter dazukommt. Das ging, glaube ich, von dem Älteren aus, der mochte keine Zweiergespräche. Der Ältere nannte sich selbst Puschkin, wie der große Schriftsteller Alexander Puschkin. Dessen Hauptwerk Eugen Onegin wurde von Tschaikowsky als Oper bearbeitet, und während einer Aufführung dieser Oper hat Puschkin in einem Anfall von Euphorie, wie er mir erzählte, seine große Liebe kennen gelernt und am selben Abend wieder verloren. Seit dieser Zeit nennt er sich Puschkin.
Puschkin trägt immer ein Buch mit sich, ein recht zerfleddertes mit viel Selbstgeschriebenem, gemischt mit herausgerissenen Artikeln, die aus allen Ecken hervorlugen. Das Buch hält er immer seitlich unter dem Arm, etwas zu hoch, beinahe knapp unter der Achsel.
Puschkin liebt die Farbe grau, grau in allen Schattierungen, wie er immer sagt, alles, was zwischen schwarz und weiß ist. Und er bevorzugt ein ebenerdiges Leben. Er betritt deswegen zum Beispiel keine Lokale, in denen sich die Toiletten im Keller befinden, alles muss ebenerdig sein. Er möchte immer in den Süden, wegen irgendeiner Frau, mag aber keine Gleise und keine Schienen, wegen Entzug der freien Entscheidung.
Weissagung am Bahnhof
Mir geben Gleise eher ein Gefühl der Sicherheit. Meine Probleme mit der Bahn waren früher anderer Natur. Gerade in den Monaten nach der Wende, als an allen Bahnhöfen die große Renovierungswut ausgebrochen ist, war meine Orientierungslosigkeit am größten. Ich war viel unterwegs als Alleinunterhalter bei Hochzeiten, Geburtstagen, bei Anlässen jeder Art. Ich übernahm Moderationen, musste Witze erzählen, Reden halten, aber auch singen und vor allem bestens gelaunt die Leute unterhalten, bis es dem letzten Rauschkopf völlig egal war, was um ihn herum passierte. Manchmal mich eingeschlossen.
Und so war ich eben viel auf Achse, mit Heimorgel, Requisiten, gezaubert habe ich auch noch, hatte schlechte Tricks drauf, habe ich leider viel zu spät aufgegeben, aber eben mit viel Gepäck, in der linken Hand die Orgel mit Kabeln und Orgelständer, dazu noch eine Tasche mit Hemden, Socken, Unterhosen, rechts den Koffer mit Requisiten und noch eine Tasche mit den alten Socken, Hemden und Unterhosen, und noch einen schweren Rucksack mit dem ganzen Kleinzeug, einschließlich Zitronentee und Schinkensemmeln, da kommen leicht 200 Kilo zusammen. Insgesamt, also mit mir. Den Füßen ist es egal, woher das Gewicht kommt.
Und mit diesem Gepäck musste ich dann umsteigen, an Bahnhöfen, die nicht nur einfach renoviert, sondern bis auf die Grundmauern entkernt wurden. Überall Bauschuttberge, über die ich mit meinem Gepäck steigen musste. So meinte das also die Bahn, dachte ich mir, wenn sie von Erlebnisbahnhöfen sprach. Aus einem dieser Schuttberge zog ich einmal ein verstaubtes Blechschild heraus: »Gleis drei«. Da muss ich also rauf, dachte ich. Als ich oben ankam, war das für mich eine echte Gipfelbesteigung, höher ging’s nicht, ich war fix und fertig, hatte Atemnot, Schwindelgefühle, Übelkeit, ich hatte meinen persönlichen Mount Everest. Hinzu kamen dann bahnklassische Zwischenkatastrophen, also Durchsagen wie: »Wegen Gleisbauarbeiten fährt der ICE nicht auf Gleis 3, sondern auf Gleis 17 ein…!«
Das größere Problem war, dass sich, kaum oben angekommen, jedes Mal ein Harndrang meldete, der kaum auszuhalten war. So, und der Zug kommt in vier Minuten. Die Toilette aufsuchen mit Gepäck - unmöglich.
Genau das ist mir einmal zugestoßen, am Hauptbahnhof Ulm. Ein Herr stand auf dem Bahnsteig, der so etwas Vertrauenswürdiges an sich hatte.
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