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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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Holmes!«
    Er stand auf, tätschelte seinem alten Kameraden freundlich den Kopf und trottete in Richtung Gate 42.
    Bin ich heute Morgen wirklich aufgewacht?, fragte sich Gunnar Barbarotti, als der senfgelbe Rücken aus seinem Blickfeld verschwunden war. Habe ich gerade mit jemandem gesprochen? Sitze ich hier?
    Aber wenn er dies wirklich tat – und es getan hatte, sowohl das eine, als auch das andere und das dritte –, dann konnte er sich zumindest darüber freuen, dass immerhin eine Frage geklärt werden konnte. Das Wallmansche Briefkastenmysterium. Wallman-Braun ?
    Blieben all die anderen.
    Neunzig Minuten später war er endlich in der Luft. Die Anzahl der Fluggäste belief sich auf insgesamt vier, und Barbarotti nahm an, dass etwa ein Dutzend die Warterei leid gewesen war und beschlossen hatte, stattdessen an einen anderen Zielort zu reisen. Oder den Bus zu nehmen.
    Aber die Flugzeit betrug nur eine gute Stunde, und als er aus dem winzigen Flughafenterminal in Vilhelmina trat, stand dort wie erwartet ein junger Mann mit seinem Namen auf einem Schild, genau wie von Mona Frisk versprochen, als er am Morgen mit ihr telefoniert hatte.
    »Des Pudels Kern«, dachte Barbarotti und setzte sich auf die Rückbank eines silbergrauen Toyotas. Das wurde aber auch Zeit.
    Und dann stand Marianne wieder in diesem Türrahmen.

IV
    Juni 2012 / Juni-August 1989

35
    D ieser Sommer.
    Es war die seltsamste Zeit, die sie je erlebt hatte, schon nach ein, zwei Tagen wurde ihr das klar. Am Sonntag hatte sie, tief und traumlos, bis halb eins geschlafen, und war davon aufgewacht, dass Billy neben ihrem Bett stand und sie ansah. Das war wirklich noch nie vorgekommen. Weder, dass sie so lange geschlafen hatte, noch, dass sie von dem Jungen geweckt worden war.
    Dafür gab es natürlich eine einfache Erklärung, sie war erst um halb fünf und todmüde nach der ganzen Plackerei ins Bett gekommen. Sie betrachtete Billy, der vor ihr stand und ein bisschen unruhig vor und zurück wippte; sicher wollte er ihr etwas sagen, aber an einem Tag wie diesem lagen die Worte tief in ihm begraben. Noch tiefer als sonst, und sie dachte, dass es ausnahmsweise von Vorteil war, dass Billy nun einmal Billy war. Was hätten sie einander sagen sollen? Die Sonne schien hinter ihm zum Fenster herein, und seine fast weißen Haare filterten das Licht in seltsamer Weise, sodass um seinen Kopf fast ein Glorienschein hing. Sie blieb reglos auf der Seite liegen und musterte ihn für einige ernste Augenblicke, und er sah nicht fort wie sonst, sondern hielt ihrem Blick stand, und sie ahnte, dass in diesen Sekunden etwas Entscheidendes zwischen ihnen passierte. Natürlich war das wirklich Entscheidende bereits am Vorabend eingetroffen, aber was nun geschah, war eine Art … wie hieß das? Besiegelung? Versiegelung?
    Sie wusste es nicht. Damals nicht, und heute, fast auf den Tag genau dreiundzwanzig Jahre später in der stillen nordschwedischen Wildnis, auch nicht.
    Dieses Bild im Schlafzimmer kann sie dagegen mühelos heraufbeschwören. Alles andere existiert auch noch, aber auf andere Art; nichts ist so detailgenau, so ausliefernd und nackt wie Billy, der dort im Gegenlicht steht und sie ansieht. Als sie sich ineinander spiegeln und sich erinnern, was passiert ist, und dass … und dass hiernach nichts mehr so sein wird wie vorher. Die Zukunft liegt so offen und unergründlich vor ihnen wie ein fremdes Meer, und der Bund zwischen ihnen wird besiegelt.
    Genau, denkt sie, es heißt besiegelt.
    Und dann, nach all den Jahren, dieser Kriminalinspektor. Nach Hinseberg. Nach ihrer Rückkehr. Nach Arnold.
    Was will er? Warum ist er nur so darauf erpicht, mit ihr zu sprechen?
    Er kommt an diesem Tag. Am Nachmittag, hat Mona erklärt, das Flugzeug aus Stockholm hat offenbar große Verspätung. Aber er ließ sich einfach nicht länger abwimmeln, auch das hat sie erklärt. Nicht, wenn man keinen schlimmeren Verdacht als nötig erwecken möchte. Und das möchte man nicht.
    Sie verharrt bei diesen Gedanken, während sie ihren üblichen Morgenspaziergang macht: der Weg, der über das Moor bis zum Wasserlauf führt, die knorrigen Zwergbirken, das niedrige, windzerzauste Unterholz. Der Schnee, der erst kürzlich geschmolzen ist, an den Nordhängen liegen noch vereinzelt Reste, und es ist viel Wasser in der Erde. Die Zeit der Frühjahrsflut ist noch nicht vorbei, aber hinter der nächsten Ecke winkt der Sommer. So ist das in dieser Gegend, der Frühlingsanfang dauert höchstens eine Woche,

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