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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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die Zeit vertreiben kann, heißt das noch lange nicht, dass er sicheren Boden unter den Füßen hat. Pass auf, fordert seine tote Frau ihn auf. Denk ja nicht, dass du die Sache auf die leichte Schulter nehmen kannst.
    Was meint sie damit? Soll er ihrem Urteil vertrauen? Sie hat ihm auch einigermaßen deutlich gesagt, dass er versuchen soll, Eva Backman für sich zu gewinnen. Das klingt doch völlig plemplem, und wer sagt einem denn eigentlich, dass die Toten ein besseres Urteilsvermögen und einen besseren Überblick haben als die Lebenden?
    »Malgomaj«, sagt sein Fahrer Henning überraschend und macht eine ausschweifende Bewegung mit dem rechten Arm. Barbarotti blickt durch das Seitenfenster auf den See mit diesem Namen hinaus, der sich wie ein gewundenes blaues Band durch die Landschaft erstreckt, ein Schal, den eine junge Schönheit auf dem Weg zu ihrem Liebsten verloren hat. Henning will vermutlich zum Ausdruck bringen, dass er den See schön findet. Dass er stolz ist, hier im Norden zu wohnen. Dass es das ist, was zählt.
    Wenn es so sein sollte, kann Barbarotti ihn verstehen. Die Landschaft ist grandios und schön. Unverständlich ist allerdings, dass er hinter Henning und Hennings altem Hund sitzt und durch diese ehrfurchtgebietende Landschaft rauscht, um zwei alte Mörderinnen zu treffen. Eine Schlächterin und eine … was hatte Backman gesagt? Zwei Schüsse mit einem Elchstutzen? Einen ins Herz und einen in den Kopf?
    »Ja«, sagt er als Erwiderung auf den einmaligen Ansatz des Fahrers zu einem Gespräch. »Ich kann mir gut vorstellen, dass man hier nie fortwill.«
    Dabei will er nichts lieber als das. Er ist in dieser gewaltigen Landschaft nicht zu Hause, er ist in vielerlei Hinsicht auf Irrwegen, und wenn er nicht aufpasst, wird ihn jeden Moment erneut die große Trauer übermannen, die ihn lähmt und versteinert, und er ist sich nicht sicher, dass Henning und seine Töle die richtige Gesellschaft für diesen Typ von psychischem Erdrutsch sind.
    »Wie weit ist es noch?«, fragt er deshalb.
    »Ungefähr zwanzig Minuten«, antwortet Henning.
    Anschließend sieht es aus, als läge ihm eine Frage auf der Zunge, aber er bleibt stumm. Barbarotti lehnt sich zurück und schließt die Augen. Versucht irgendeine Art von Kontakt zum Herrgott zu bekommen und fühlt sich nach einer Weile tatsächlich ein wenig umschlossen. Keiner von ihnen sagt etwas. Gott ist an diesem Nachmittag genauso schweigsam wie Henning, aber das spielt keine Rolle. Er weiß, worum es geht, natürlich weiß er das. Das braucht nicht durch die schwergängige Mühle der Formulierungskunst gedreht zu werden.
    Bevor das Wort mir auf der Zunge liegt, weißt du, o Herr, alles, was ich dir sagen will.
    Besser so, denkt Barbarotti. Besser so. Dann zieht er Mariannes Brief aus der Brusttasche und liest ihn noch einmal. Ihm fällt auf, dass er in den Knicken schon ein wenig weich und faserig ist, und er beschließt, ihn laminieren zu lassen. Oder könnte er ihn kopieren und das Original an einem sicheren Ort deponieren?
    Aber sie bringt ihn zum Lächeln, das tut sie. Tot und begraben, dennoch in einem ganz eigenen Sinn gegenwärtig.
    Um Punkt halb vier Uhr biegen sie auf den Hof vor dem weißen Holzgebäude. Die Sonne ist verschwunden, stattdessen türmen sich über den Bergen im Westen nun dunkle Wolken auf, und als Barbarotti aus dem Wagen steigt, spürt er einen kalten Windstoß. Eine kräftig gebaute Frau von etwa sechzig Jahren ist auf die länglich schmale Veranda getreten, die an der Vorderseite des Hauses entlangläuft. Sie wechselt einige Worte mit Henning, ohne Barbarotti zu beachten; Henning steigt wieder in den Wagen und fährt davon, während die Frau auf der untersten Treppenstufe stehen bleibt und Barbarotti mustert. Dass sie Mona Frisk höchstpersönlich ist, steht außer Frage. Sie strahlt Autorität und Stärke aus, innere wie äußere, ihre stahlgrauen Haare sind zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden; sie trägt eine verwaschene Jeans und ein kariertes Flanellhemd, hat sich ein rotes Halstuch umgebunden und trägt schwarze Holzschuhe an den Füßen, die haargenau so aussehen wie die Schuhe, in denen Barbarotti in den siebziger Jahren während seiner Zeit in der Mittelstufe herumlief.
    »Es gibt Regen«, sagt sie.
    Keine Vorstellung. Kein Handschlag. Kein Willkommensgruß.
    »Sie bekommen Zimmer Nummer sieben«, fügt sie hinzu. »Das wird das Beste sein.«
    Barbarotti weiß nicht, warum es das Beste sein wird, aber er folgt ihr ins

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