Am Abend des Mordes - Roman
oder aus dem Brief an die Hebräer, und als auch das wirkungslos bleibt, liegt er einfach ausgestreckt auf dem Rücken und versucht, sich Wort für Wort Mariannes Brief ins Gedächtnis zu rufen, während er ihr Gesicht vor seinem inneren Auge heraufbeschwört.
Für einige stille Minuten gelingt es ihm tatsächlich; in gewisser Weise findet er, dass sie bei ihm ist, aber dann kehrt Ellen Bjarnebo zurück. Ihr Gespräch, ihr ruhiger, ruhender Blick, und dass sie wie zwei Schachspieler ohne Spielfiguren oder Brett oder Absicht an diesem Tisch zusammensitzen, und plötzlich taucht eine Frage auf, von der er sich wünschen würde, sie gestellt zu haben.
Wenn ich Ihr Beichtvater gewesen wäre und kein simpler Kriminalinspektor, dann hätten Sie mir andere Dinge erzählt, nicht wahr?
Ja, weiß Gott, denkt er, nur wenige Augenblicke, bevor er endlich einschläft, diese Frage werde ich ihr morgen früh stellen.
Genau diese Frage.
41
N ach Mitternacht. So schwierig, Schlaf zu finden.
Das Problem hatte sie in dem Sommer damals nie, und das musste natürlich etwas zu bedeuten haben. Dass sie nicht wach lag und sich damit quälte, was sich zugetragen hatte, war sicher ein Zeichen gewesen. Ein Zeichen und eine Bestätigung dafür, dass ihre Schuld leicht wog, dass sie − in einem tieferen Sinn, den man nicht ergründen musste – lediglich so gehandelt hatte, wie sie handeln musste. Und obwohl es nicht so sein sollte, ist es doch notwendig, so zu denken, das ist es all die Jahre gewesen.
Wenn sie in dieser Nacht nicht schlafen kann, liegt es an etwas anderem. Unklar an was, aber das Gespräch mit dem Mann von der Kripo geht ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf, und sie weiß nicht, ob das nun gut oder schlecht ist. Hinterher hätte sie gerne noch ein paar Worte mit Mona gewechselt, aber nachdem sie ihr Gespräch im Speisesaal beendet hatten, war sie schon zu Bett gegangen. Jedenfalls hatte sie ihre Tür geschlossen, und als Ellen vorbeischlich, drang aus ihrem Zimmer kein Ton.
Außerdem geht Mona immer früh zu Bett. Dafür ist sie morgens auch schon vor sechs Uhr auf den Beinen. Im Sommer wie im Winter; eigentlich sollte man in der dunklen Jahreszeit länger schlafen, das weiß sie genauso gut wie Ellen. Vor allem in dieser Gegend, in der es zwischen November und Februar niemals richtig hell wird. Aber es funktioniert nicht; man sollte nie versuchen, über seinen Körper und seine Unarten zu bestimmen, sagt Mona immer. Es ist besser, man hört auf die Signale und nimmt sie ernst.
Ellen weiß allerdings nicht, welche Signale sie in dieser Nacht wachhalten, aber sie kommen wohl eher vom Kopf als vom Körper. Vielleicht sollte sie trotz allem das Rollo herunterziehen, aber interessiert sich ihr Kopf überhaupt für Helligkeit und Dunkelheit? Nicht auf die Art; was ihr Gehirn sinnlos grübeln lässt, ist eine andere Art von Licht und Dunkelheit. Sogar richtig und falsch, darüber würde sie mit Mona nicht sprechen können, und hat auch gar nicht die Absicht, es zu tun. Aber es kommt ihr vor, als hätte das Gespräch mit dem freundlichen Kriminalbeamten – freundlich und fast ein wenig scheu, denkt sie, aber wenn er wirklich erst vor einem Monat seine Frau verloren hat, ist das vielleicht auch nicht weiter verwunderlich –, als hätte besagtes Gespräch in ihrem Inneren etwas zum Leben erweckt. Etwas, worauf sie fast gewartet hatte, wovon sie gewusst hatte, dass es eines Tages kommen würde. Früher oder später, denn war sie vor fünf Jahren nicht deutlich zu leicht davongekommen? War es nicht so? Sie hatten sie zwar unter Druck gesetzt, dieser hartnäckige Gunvaldsson und ein paar andere, aber verglichen mit dem, was sie erwartet hatte, war es dennoch ein Klacks gewesen. Als man sie plötzlich, vom einen Tag auf den anderen, in Ruhe gelassen hatte, konnte sie es anfangs gar nicht glauben. Nicht wirklich.
Aber so war es, sie wurde nicht mehr verdächtigt, getan zu haben, was Arnold den Vorstellungen der Polizisten nach zugestoßen war, und schon seit dem ersten Kontakt mit diesem Inspektor Barbarotti – am Telefon vor zwei Wochen – hatte sie das Gefühl, von etwas eingeholt worden zu sein. Nein, nicht in dem Sinne, dass sie die ganze Zeit darauf gewartet hätte, korrigiert sie ihre Gedanken, so nicht, aber da ist trotzdem etwas gewesen. Etwas Unabgeschlossenes, ähnlich einem Buch, das doch noch ein Kapitel weitergeht. Wie ein Lied mit einer späten letzten Strophe.
Und nun erscheint ihr alles so ungeheuer deutlich.
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