Am Abend des Mordes - Roman
All diese Zeit, diese dreiundzwanzig Jahre, wirkt auf einmal verdichtet, zusammengepresst zu etwas bedeutend Kompakterem. Ein paar einzelne Ereignisse, einige wenige Entscheidungen, einige weitreichende Konsequenzen.
Gestaltet sich das Leben für jeden so?, fragt sie sich. Die Jahre müssen sühnen, was der Augenblick verbrach , musste es so sein? Sie glaubt, ausgerechnet diese Devise irgendwo als gestickten Wandschmuck über einem Sofa gelesen zu haben, weiß aber beim besten Willen nicht mehr, wo das gewesen sein soll, wenn es denn wirklich eine Erinnerung ist.
Jedenfalls nicht in ihrem Elternhaus. Jedenfalls nicht auf Klein-Burma. Weder da noch dort gab es so etwas wie Wandschmuck. Aber es ist eine dumme Frage. Sie hat vor langer Zeit aufgehört, ihr Leben mit dem Leben anderer Menschen zu vergleichen. Wozu sollte das gut sein?
Wie auch immer, jetzt liegt sie hier und kann nicht schlafen. Jener Sommer kehrt zu ihr zurück. Genauer genommen, das letzte Wochenende. Sie wünscht es sich nicht, aber es kommt trotzdem.
Uneingeladen, wie so vieles andere in ihrem Leben auch.
Samstag und Sonntag, der fünfte und sechste August. Am Montag, dem siebten, wird der Heidelbeerpflücker Ernst Karlsson dreihundert Meter hinter Klein-Burma im Wald den ersten schwarzen Plastiksack mit Harry Helgessons Kopf und Armen finden.
Aber als sie am Samstagmorgen aufwacht und denkt, dass die Sonne scheint und sie zwei Tage freihat, ahnt sie davon noch nichts. In den letzten Wochen hat sie im Eisenwarengeschäft gearbeitet, allerdings nur donnerstags und freitags; es ist immer noch Urlaubszeit, aber am folgenden Montag wird ganz Schweden wieder in Schwung kommen und auch sie zu ihren üblichen Arbeitszeiten zurückkehren.
Daraus wird jedoch nichts, für sie wird es nicht die üblichen Arbeitszeiten, sondern Körperteile und Polizisten und Chaos und Schlagzeilen geben, aber das muss sie noch nicht belasten, nicht an diesem fast glücklichen Samstagmorgen, an dem sie sich beeilt, Billy zu wecken und ihm ein Frühstück zu machen. An diesem Wochenende wird Göran ihren Weizen ernten, jedenfalls so viel er schafft und wenn es nicht regnet, und Billy soll auf dem Mähdrescher mitfahren. Zum ersten Mal reicht ihr Nachbar und Liebhaber dem Jungen seine Hand, und sie hat gesehen, dass Billy sich wirklich freut. Man muss wahrscheinlich seine Mutter sein, um es zu erkennen, aber es stimmt trotzdem.
Und so kommt er ohne Mätzchen aus den Federn, was sonst wahrlich anders ist. Aber im Laufe dieses Sommers ist mit dem Jungen etwas geschehen. Stumm ist er immer noch, mehr oder weniger zumindest, aber so zufrieden wie nie zuvor. Die Zinnsoldaten sind bis auf drei Stück zurück, sie haben sie ein paar Tage nach Harrys Verschwinden hinter dem alten Erdkeller verstreut gefunden – eigentlich nicht schwer zu finden, als hätte er es letztlich doch ein wenig bereut, hat sie sein Handeln zu deuten versucht –, aber Billy ist nicht mehr so fixiert auf sie. Ab und zu spielt er mit ihnen, das tut er natürlich, und er bleibt nach wie vor am liebsten für sich – beschäftigt sich, oder was ein Zwölfjähriger so macht. Aber manchmal ist er tatsächlich bei seinen Cousins und seiner Cousine zweiten Grades auf Groß-Burma. Nicht lange, aber es ist trotzdem ein Unterschied, ein beträchtlicher Unterschied zu früher. Auch daheim bewegt er sich mit größerer Freiheit, ist er nicht mehr so an sein Zimmer gefesselt wie vor dem Sommer. Sie merkt, dass sie zum ersten Mal seit sehr langer Zeit etwas Licht sieht, wenn sie an ihn denkt. Eine Art Hoffnung für den Jungen.
Anschließend denkt sie, dass sie nicht so denken darf. Das ist übermütig, es handelt sich nur um eine Gnadenfrist, die Dinge werden sich verändern.
Vielleicht ist es die Muti-Stimme, die das sagt, jedenfalls bleibt es ihr hinterher so im Gedächtnis.
Ist es erlaubt, sich ein bisschen zu freuen, solange es trotz allem währt?, fragt sie die Stimme, doch, sie erinnert sich genau, dass sie das fragt. Darf ich mir das gestatten?
Und die Antwort lautet wie im Kinderlied: Tanze mein Püppchen, solange du jung bist .
Und das tut sie. Noch zwei Tage.
An diesem Samstag bekommt sie überraschend Besuch. Am Vormittag, eine Stunde, nachdem Billy aufgebrochen ist, um bei der Ernte zu helfen, biegt ein alter Ford Mustang auf den Hof. Zwei Männer steigen aus, aber von ihrem Standort in dem kleinen, baufälligen Gewächshaus, das Harry in ihrem ersten Sommer hier zimmerte und in dem sie Jahr für Jahr
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