Am Abend des Mordes - Roman
Runde, als Harry kurzzeitig wieder versammelt ist, trägt und schleift sie die drei Pakete, soweit ihre Kräfte reichen, in drei verschiedene Richtungen. Ihr Tun wird unablässig vom Unwetter begleitet, wofür sie in gewisser Weise dankbar ist, denn es erscheint ihr als der richtige Rahmen dafür, und von Zeit zu Zeit legt sie den Kopf in den Nacken und lässt ihr Gesicht vom Regen reinwaschen. Genau wie ihre Hände. Manchmal hört sie auch die Stimme Hausmeister Mutis, aber es ist immer nur ein Wort, dieselbe Aufforderung: Weitermachen!
Weitermachen! Weitermachen!
Und das tut sie. Bis sie ihrem Körper den letzten Funken Kraft abgerungen hat, macht sie weiter, und als endlich alles erledigt ist, als alle Spuren von Bauer Helgesson auf Klein-Burma ausradiert sind, geht sie zu dem Jungen hinein.
Er schläft in seinem Bett.
Auf der Seite, mit angezogenen Knien, das Gesicht der Wand zugekehrt, ja, er liegt unter seiner Decke wie sonst auch. Ruhige, regelmäßige Atemzüge, keine spürbare Unruhe. Sie bleibt lange im Türrahmen stehen und betrachtet ihn. Nach allen Kraftanstrengungen zittert ihr Körper ein wenig. Zaghaft sickert die Morgendämmerung zum Fenster herein, der Regen wird schwächer, und schon bald hat das Licht die Dunkelheit in die Flucht geschlagen.
Er sieht wieder so wehrlos aus. Ihr kommen dasselbe Wort und derselbe Gedanke wie vor vierzehn Stunden in den Sinn. Wehrlos. Die Maus muss das Schwein beschützen, denkt sie, für ein anderes Verhalten ist ebenso wenig Platz wie für andere Entschlüsse.
Sie streicht ihm über den Nacken, verlässt den Raum und geht duschen. Ihre Kleider hat sie in die Waschmaschine gestopft und diese angestellt. Auf der anderen Seite des Duschvorhangs grummelt sie leise auf ihre vertraute, beruhigende Art, und das Einzige, was ihr durch den Kopf geht, ist dieser dämliche Aufkleber, den man vor einem Jahr oder so überall sehen konnte.
Morgen ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.
Sie kann nicht leugnen, dass dies zutrifft. Befreiung, denkt sie. Oder nicht?
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A ber er kommt nicht zu Marianne.
Am Ende des dunklen, wirbelnden Tunnels landet er vielmehr im Sonnenschein vor einer Kirche. Vieles spricht dafür, dass es die Kirche von Kymlinge ist, und noch mehr dafür, dass es sich um eine Beerdigung handelt. Es ist viele Jahre her, er geht noch in die Polizeihochschule und wartet auf jemanden. Es ist ein schöner Herbstsonntag, und er ist mit dem Auto aus Stockholm gekommen, ja, seit ein paar Tagen ist er wieder zu Hause in Kymlinge, denn seine Mutter ist gestorben und soll beerdigt werden, und nun wartet er auf seine Tante, denn das ist Maria Larssons gesamte Familie, ein Sohn und eine Schwester.
Und dann ist er plötzlich übergangslos im Kirchenraum, schwere Orgelmusik und ebenso schwerer Blumenduft, da er und Tante Anna nur ein, zwei Meter von dem mit einem Meer aus Blumen und Kränzen bedeckten Sarg entfernt sitzen. Er versteht nicht ganz, woher dieses Meer kommt, denn die Zahl der Trauergäste ist überschaubar. Höchstens zwanzig sind gekommen, aber vielleicht gibt es ja auch eine Reihe trauernder Abwesender.
Jemand, der wirklich abwesend trauern sollte, ist sein Vater, aber er ist wahrscheinlich nicht in Kenntnis gesetzt worden. Wenn er denn überhaupt lebt, aber keiner weiß, ob das der Fall ist, denn Gunnars Vater ist bereits vor der Geburt des Jungen von der Bildfläche verschwunden. Möglicherweise wandelt irgendwo im schönen Italien ein Giuseppe Alessandro Barbarotti – im Alter von etwa sechzig Jahren zum Zeitpunkt der Beerdigung Maria Larssons, die nur neunundfünfzig Jahre alt wurde –, und eventuell wird sein Sohn irgendwann in seinem Leben versuchen, ihn aufzuspüren. Seine Mutter hat ein solches Vorhaben niemals unterstützt, im Gegenteil, aber seit einigen Jahren hat dieser Gedanke als schläfriger und schlecht bewässerter Keim im fernsten Winkel seines Hinterkopfs existiert. Seinen Vater zu finden.
Als er unter Aufbietung all seiner Kraft sein Bewusstsein schärft, ist er sich im Übrigen nicht mehr sicher, ob es sich wirklich um die Beerdigung seiner Mutter handelt. An seiner Seite müsste dann eigentlich die schwangere Helena sein, aber das ist sie nicht. Die Menschen, die in den Bankreihen tuscheln, widerlegen die Voraussetzungen; da und dort entdeckt er wesentlich später aufgetauchte Gestalten – also in seinem Leben später aufgetauchte –, und die kleine Eigentümlichkeit, dass er all ihre Gesichter sehen kann, obwohl er mit dem
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