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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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kein Mensch zu sehen; nur die ausgestopften, vage bedrohlichen Tiere an den Wänden schienen ihn mit ihren glänzenden, wachsamen Augen zu verfolgen. Er stieg die Treppe hoch, stützte sich mit beiden Händen auf den Handlauf, um es zu schaffen. Danach ging es den Flur hinunter, der schwach zu schwanken schien, und in sein Zimmer. Als er sich endlich rücklings auf dem Bett ausstrecken und die Augen schließen konnte, spürte er, dass er in rasendem Tempo in eine saugende, bodenlose Finsternis hinabgewirbelt wurde.
    Marianne, dachte er, jetzt komme ich.

43
    P lötzlich überkam sie Müdigkeit, und sie dachte, dass es letztlich nur irgendein Abend auf Klein-Burma war. Ein trostloser Tag, der in einer langen Reihe trostloser Tage zu Ende ging. Zwei Fledermäuse schossen über den Hof, und sie entsann sich eines Buchs, das sie als Kind gelesen hatte und in dem Fledermäuse eine Rolle als Kundschafter in der Zukunft gespielt hatten, eine Art Boten aus dem Morgen oder so? Das war damals gewesen, als es noch Wegscheiden und Illusionen gab.
    Doch dann fielen ihr die Zinnsoldaten wieder ein, und sie ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, zu Mut und Tatkraft zurückzufinden. Es ist etwas passiert ?
    Es passiert gerade etwas ?
    Sie kehrte auf den Hof zurück und blieb, erfüllt von einem zwiespältigen Gefühl aus Unschlüssigkeit und Erwartung, stehen. Die Gestalten unter dem Kastanienbaum bei Groß-Burma waren verschwunden oder zumindest von der Dunkelheit verschluckt worden. Sie fragte sich noch immer, wer sie gewesen sein mochten. Dann blickte sie in den bedrohlichen Himmel hinauf. Jeden Moment würden die ersten Tropfen fallen, es herrschte eine schicksalsschwere Stille wie vor einem heftigen Wolkenbruch, jedes noch so kleine Blatt blieb regungslos, und in der Luft hing eine schwache Duftspur von etwas Angebranntem. Etwas Elektrischem.
    Sie weiß nicht, wie viel sie hiervon später hinzugefügt hat, vielleicht bekommen alle Augenblicke, alle kurzen und bedeutsamen Erlebnisse ihr wahres Gewicht und ihre Bedeutung erst, nachdem sie vorbei sind. Nachdem sie vom Gedächtnis gefiltert, gewogen und bewertet wurden, aber sie hat sich dennoch immer eingebildet, dass es ein Vorzeichen gab. Vielleicht hing es mit den Fledermäusen zusammen, jedenfalls gab es eine Vorahnung und ein Wissen über Verhältnisse, über die man normalerweise nichts wissen kann. Den ganzen Nachmittag und Abend hat sie existiert, eine Art Vorspiel, eine Steigerung, die sich wie die dichter und dunkler werdende Wolkenbank entladen muss, um erlöst werden zu können. Erlöst und aufgelöst.
    Die Worte sind später hinzugekommen, das weiß sie, denn als sie dort stand, zögerte und aufmerksam zu sein versuchte, konnte sie ihr Gefühl und ihre Gedanken beim besten Willen nicht benannt haben. Bevor sie sich langsam und zögernd auf die Scheune zubewegte – aber diese Worte sind natürlich bedeutungslos, sind nichts als vergebliche Formulierungen und Überlegungen, denen man sich in elf langen Jahren der Einsamkeit widmet, während der Schlaf auf sich warten lässt.
    Sie sieht, dass im Büro Licht brennt. Schließt daraus, dass Harry also doch dort sitzt. Wahrscheinlich hat er während ihres Spaziergangs einen Teil seines Rauschs ausgeschlafen, ist dann aufgewacht und hinausgegangen und hat sich mit noch ein paar Bier und Zigaretten an seinen Schreibtisch gesetzt. Ja, so muss es sein. Vielleicht sitzt er dort jetzt und blättert zu allem Überfluss in seinen Pornos, und sie erkennt, dass sie keine Lust hat, ihm zu begegnen. Nicht die geringste Lust.
    Als sie dies erkannt hat und kehrtmachen will, um zum Haus zurückzugehen, möglicherweise auch, als ein kalter Windstoß heranweht und das erste ferne Grollen und die ersten Regentropfen ankündigt – was allerdings zu den Dingen gehören könnte, die sie in Hinseberg hinzugefügt hat –, jedenfalls kommt in diesem Augenblick Billy mit dem Hammer in den Händen aus der Scheune.
    Sie bleiben zwei Meter voneinander entfernt stehen und sehen sich an. Vollkommen regungslos, wenn man einmal davon absieht, dass der Junge heftig atmet, sein Mund offen steht und sein Blick nur eines ausdrückt: völliges Entsetzen. Sie begreift noch nicht, was geschehen ist, nicht genau, erfährt es jedoch wenige Sekunden später, als sie an ihm vorbeigeeilt ist, die Tür geöffnet und Harry erblickt hat, der weit zurückgelehnt auf dem Schreibtischstuhl sitzt und dessen Arme links und rechts herabhängen – die Fingerspitzen

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