Am Abend des Mordes - Roman
gnädige Frau, er erkannte, dass er ihren Namen entweder nie erfahren oder ihn vergessen hatte, wusste sie möglicherweise, wo sich ihre Schwiegermutter aufhielt? War sie eventuell sogar bei ihnen zu Besuch?
Keineswegs. Sie hatten nicht sonderlich viel Kontakt zu Billys Mutter, wofür es Gründe gab, und wenn Frau Billy sich richtig erinnerte, hatten sie seit Ostern nichts mehr von ihr gehört. Obwohl Mutter und Sohn telefoniert haben mochten, dazu konnte sie natürlich nichts sagen.
Das war alles. Barbarotti bedankte sich und legte auf.
Nächste Woche, dachte er. Ellen Bjarnebo hatte versprochen, nächste Woche zurück zu sein, will sagen in dieser Woche, aber genauer hatte sie sich nicht geäußert. Sie hatte nicht gesagt, an welchem Tag. Seinem Handy zufolge hatten sie gerade einmal achtzehn Sekunden miteinander gesprochen, aber so viel hatte dennoch festgestanden.
Es war natürlich denkbar, dass sie Donnerstag oder Freitag auftauchen würde und vorher ein, zwei Tage bei einem Freund oder einer Freundin auf dem Weg verbrachte. Gävle, Stockholm oder Katrineholm, warum nicht? Warum sollte sie es eilig haben, in die Valdemar Kuskos gata im Stadtteil Rocksta in Kymlinge zurückzukommen – und zu einem schwermütigen Kriminalinspektor, der allem Anschein nach die Absicht hatte, diese alte Geschichte wieder aufzuwärmen? Dafür gab es keinen Grund.
Blieb die Frage, warum er dieser simplen Erklärung keinen Glauben schenken mochte. Das konnte man sich natürlich fragen. Warum spürte er mit jedem Tag und jeder Stunde, die verging, immer deutlicher, dass hier etwas faul war? Dass Ellen Bjarnebo sich überhaupt nicht in Kymlinge einfinden würde, weder gegen Ende dieser Woche noch später.
Aber da Gunnar Barbarotti dem Begriff Intuition stets – gelinde gesagt – ambivalent gegenübergestanden hatte, schob er solche Fragen und Zweifel auch an diesem Nachmittag weit von sich.
Genau genommen, an diesem schönen Mainachmittag. Das Wetter war endlich umgeschlagen und erinnerte an Vorsommer, und wenn er noch eine Ehefrau gehabt hätte, dann hätte er sie höchstwahrscheinlich – und mit freudigem Herzen – auf der Arbeit angerufen und ein Abendessen in einem der Gartenlokale der Stadt vorgeschlagen.
Aber er hatte keine Frau mehr, so sah es heute aus.
Der Donnerstag stand dem Mittwoch wettertechnisch in nichts nach. Er wurde früh davon geweckt, dass die Sonne in einer bekannten Straße auf den Schlafzimmerboden fiel und die Vögel im Garten so zwitscherten, dass es ein Heidenlärm war.
Es war halb sechs. Heute kommt ihr Brief, dachte er. Heute passiert es.
Bei dem Gedanken wurde er hellwach. Zehn Minuten später begriff er, dass er für diese Nacht ausgeschlafen hatte, stellte sich unter die Dusche und überlegte, wie er sich verhalten sollte.
Zu Hause bleiben und auf den Briefträger warten oder ins Büro fahren? Irgendetwas – jedoch nicht Intuition – sagte ihm, dass es keinen Sinn haben würde, herumzusitzen und auf Briefe zu warten. Das hieße, sein Schicksal und die Gnade und das Gewissen herauszufordern; nein, Mariannes Worte mussten bis zum Abend warten, so einfach war das. Oder zumindest bis nach dem Mittagessen. Und die Frage, wie man es anstellte, Briefe zu schreiben und zu verschicken, obwohl man tot war … oh ja, auf die Erklärung dieses kleinen Details war er bereits sehr gespannt. Er beschloss vorläufig, am frühen Nachmittag kurz nach Hause zu fahren und den Briefkasten zu leeren, das schien ihm ein guter Kompromiss zu sein. Es gab ja ohnehin niemanden, der sein Tun und Lassen beaufsichtigte.
Daraus wurde jedoch nichts. Donnerstag war der Tag, an dem Asunander von seiner Privatangelegenheit ins Präsidium zurückkehrte; Barbarotti musste nicht wie geplant um eine Audienz ersuchen, da der Kommissar einen Zettel auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte, auf dem vermerkt war, dass er den Inspektor um zwei Uhr in seinem Büro zu sprechen wünsche.
Was einem Abstecher nach Hause wiederum einen Riegel vorschob. Zumindest wirkte es wie ein deutlicher Fingerzeig, es lieber zu lassen.
Den Vormittag verbrachte er mit lesen, telefonieren und nachdenken. Ellen Bjarnebo meldete sich nach wie vor unter keiner ihrer beiden Telefonnummern und hatte auch noch nicht auf seine SMS reagiert. Er besaß vier verschiedene Fotos von ihr, alle entstanden vor mehr als zwanzig Jahren – zwei vor dem Mord an ihrem Gatten, zwei danach gemacht –, und in Ermangelung sinnvollerer Beschäftigungen widmete er
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