Am Abend des Mordes - Roman
natürlich nicht. Aber ich denke, ich muss jetzt ein bisschen vorsichtig sein. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, Ihnen zu begegnen. Sie sind immer noch Polizist, stimmt’s?«
»Kriminalinspektor. Heute wie damals.«
»Obwohl andererseits …«
»Andererseits?«
»Andererseits … wenn ich es Ihnen nicht zeige, wem soll ich es dann zeigen?«
Er sah ihr an, dass sie abwog, wem sie Loyalität schuldete. Oder was auch immer.
»Sorry«, sagte er, »aber ich habe nach wie vor keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Aber lassen Sie sich ruhig Zeit, ich habe es nicht eilig. Was machen Sie denn heute so? Geht es Ihnen gut?«
Sie nickte und zog die Hand aus der Tasche. »Für mich ist es wirklich unglaublich gut gelaufen. Ich habe mich aus allem Elend befreit … nicht zuletzt dank des Geldes, das ich bekommen habe, ja, ich lebe heute in geordneten Verhältnissen. Das findet sogar meine Mutter. Sie haben Sie damals kennengelernt?«
»Das habe ich.«
»Schluss mit den Drogen und dem Herumlungern und dem ganzen Mist. Ich habe am Abendgymnasium mein Abitur nachgemacht. Studiere mittlerweile Medizin. Ich habe im Herbst einen Studienplatz bekommen, das hätten sie nicht gedacht, als sie mich damals in dem Krankenhaus sahen, was?«
Sie lachte. Barbarotti konnte ihr nicht widersprechen.
»Um ehrlich zu sein, nein, das hätte ich wirklich nicht.«
Als er Anna Gambowska vier Jahre zuvor begegnet war, war sie aus einem Heim ausgerissen gewesen – und zusammen mit einem sechzigjährigen Mann in einem Auto auf der Flucht durch Europa. Barbarotti erinnerte sich noch gut. Eva Backman und er hatten das Mädchen in einem Krankenhaus in Maardam in einem erbarmenswerten Zustand aufgespürt. Der sechzigjährige Mann war verschwunden, hatte aber einen Abschiedsbrief hinterlassen. Wie hieß er noch gleich?
Green …? Nein, Roos, ja, natürlich. Ante Valdemar Roos, wie konnte er nur einen solchen Namen vergessen? Das Auto, in dem das Paar unterwegs gewesen war, hatte man verlassen in einem Wald in der Nähe von Maardam gefunden. Wenn Barbarotti nicht alles täuschte, war Roos zwei oder drei Jahre später für tot erklärt worden. Auf Antrag der Ehefrau, durch die diese ganze Geschichte ins Rollen gekommen war … oder die sie zumindest auf die Spur gebracht hatte. Oh ja, jetzt erinnerte er sich wieder an alles.
»Großer Gott, was soll ich bloß tun?«, sagte Anna Gambowska, schien dann jedoch einen Entschluss zu fassen. Fischte ein iPhone aus der Tasche, wählte eine Nummer und teilte jemandem mit, dass sie zehn Minuten später kommen würde.
»Okay«, sagte sie anschließend. »Vielleicht habe ich das Ganze falsch verstanden, und man muss bestimmt keinen Gedanken daran verschwenden, aber ich kann es einfach nicht lassen.«
Barbarotti nickte. Sein Kaffee und das Käsebrot wurden gebracht.
»Sie wollen wirklich nichts haben?«
»Wirklich nicht. Ich hoffe nur, dass Sie jetzt nichts in Gang setzen. Denn dann …«
Barbarotti nahm einen Bissen, um nichts sagen zu müssen. Anna Gambowska strich sich mit der Hand durch ihre dunklen, kurzgeschnittenen Haare.
»Kann man von Ihnen ein Schweigegelübde verlangen?«
Er lachte. »Das kommt ganz darauf an, worum es geht.«
Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund ahnte er bereits, worum es ging. Ich glaube, ich verstehe , dachte er. Ich werde verrückt . Oder es war nur ein Schuss ins Blaue.
»Es geht um Valdemar«, sagte er. »Habe ich recht?«
Sie starrte ihn, fast erschrocken, an.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nun erzählen Sie schon«, sagte er. »Ich bin zwar Kriminalinspektor, aber ich bin auch ein Mensch. Und ich habe, was diesen Todesfall angeht, sicher mehr verstanden, als Sie vielleicht glauben mögen. Ich meine Ihren früheren Freund.«
Das ließ sie zurückschrecken. Er sah, dass sie es bereute, zu ihm gekommen zu sein und sich vorgestellt zu haben. Sie musterten einander für drei stumme Sekunden.
»Anna«, sagte er. »Sie müssen mir nicht erzählen, was Sie mir erzählen wollten. Sie können weitergehen zu wem auch immer, und wir vergessen die Sache. Oder …«
»Oder?«
»Oder wir machen einen Deal.«
»Einen Deal? Wie meinen Sie das?«
»Wir könnten Folgendes sagen«, antwortete Barbarotti. »Sie erzählen mir, was Sie erzählen wollten, und ich vergesse es danach sofort.«
Sie betrachtete ihn erstaunt. Dann lachte sie laut.
»Okay. Also dem Menschen und nicht dem Polizisten?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Barbarotti. »Nun?«
Sie biss
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