Am Anfang eines neuen Tages
hierzu fähig. Das jahrelange Schießen auf Yankees im Krieg hatte ihn gegen das Töten immun werden lassen. Er würde Lizzie und ihre Familie in den Wald locken und sie alle verschwinden lassen. Alle würden annehmen, dass sie White Oak verlassen hatten, so wie all die anderen Schwarzen es getan hatten. Otis musste sterben, weil er gegen Daniel aussagen könnte. Die Kinder waren die Köder in der Falle. Jo schauderte, weil sie wusste, dass er auch sie töten würde. Und Lizzie würde sterben, weil sie es gewagt hatte, die Wahrheit über Samuel zu sagen. Daniel würde sie umbringen, damit sie niemand anderem erzählte, was Samuel und Harrison Blake getan hatten.
Josephine blieb wie angewurzelt stehen. Harrison Blake! Sie war beinahe bei der Plantage der Blakes angekommen. Vielleicht könnte sie sich ihre Kutsche ausleihen, um damit in die Stadt zu fahren. Sie glaubte nicht, dass sie die Kraft hatte, den ganzen Weg zu rennen. Jo bog in die Allee ein, die zu Harrisons Haus führte. Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Was, wenn sie Harrison überreden könnte, ihr zu helfen? Er stand tief in Lizzies Schuld für das, was er ihr angetan hatte, da war es doch das Mindeste, dass er sie und ihre Kinder rettete. Auf Harrison, ihren ehemaligen Captain, würden Daniel und die anderen bestimmt hören.
Josephine beschloss, zum Hintereingang zu gehen und einen Dienstboten zu bitten, ihn zu holen. So würde Priscilla nicht erfahren, dass sie hier war. Aber Harrison saß auf der Veranda vor dem Haus in seinem Rollstuhl, als Jo die Auffahrt hinaufrannte, und er sah sie näher kommen, bevor sie ihn sah.
„Wer ist da?“, rief er.
„Ich bin es, Josephine“, keuchte sie. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Josephine …?“
„Ja.“ Sie blieb stehen und lehnte sich an den Pfosten der Veranda, um zu Atem zu kommen. Die Haustür stand offen, ebenso wie alle Fenster. Sie betete, dass er zu ihr hinunterkommen würde, damit Priscilla sie nicht hören konnte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis Harrison aufstand und nach seinen Krücken griff, mit deren Hilfe er dann die Stufen hinunterhumpelte.
„Was machst du hier? Und wie siehst du überhaupt aus?“
„Ich bin den ganzen Weg hierher gerannt.“
„Gerannt? Warum?“
„Weil ich deine Hilfe brauche, Harrison. Bitte hör mir zu – als Gegenleistung werde ich auch alles tun, was du willst, aber bitte, bitte hilf mir.“
„Sprich langsam und hol erst mal Luft. Ich kann kein Wort verstehen.“
„Ich werde dich auch heiraten, wenn du willst, und deine liebende Ehefrau sein. Alles, aber ich flehe dich an, mir zu helfen.“
„Was ist denn los?“
„Mein Bruder Daniel und seine Freunde wollen unseren Schwarzen etwas Schreckliches antun. Sie haben Otis’ und Lizzies Kinder entführt und –“
„Warte. Wenn es um ein Problem mit euren Sklaven geht, dann musst du wissen, dass ich immer deinem Bruder glauben werde und nicht einem Schwarzen. Klär das selbst mit ihm.“
„Nein, hör mir zu, Harrison. Es ist eine Falle. Daniel hat ihnen eine Falle gestellt. Er hält die Kinder unserer Dienstboten als Geiseln gefangen. Er versucht, Otis und Lizzie in den Wald zu locken, und wenn ihm das gelingt, wird er sie wahrscheinlich töten.“
„Das glaube ich nicht. Warum sollte er sie töten?“
„Otis war Zeuge in der Nacht, in der im Wald zwei Schwarze getötet wurden. Er weiß, dass Daniel dort war, und er weiß auch, dass es Daniel war, der das Büro vom Amt für Freigelassene in Brand gesteckt hat. Jetzt hat Daniel Angst, dass Otis und Lizzie gegen ihn aussagen, wenn die Yankees zurückkommen. Er hat vor, sie alle umzubringen! Bitte, Harrison. Wir müssen sie retten.“
„Warum ziehst du mich da mit hinein?“
„Weil … weil ich die Wahrheit über das kenne, was du vor fünfzehn Jahren getan hast. Du hast mir erzählt, dass du für deine Sünden durch die Hölle gehst, und …. und ich weiß, was du damit gemeint hast. Du und mein Bruder, ihr habt eine unserer Sklavinnen vergewaltigt. Sie war noch ein junges Mädchen und ihr beide habt sie verführt und vergewaltigt.“
Harrison schwankte auf seinen Krücken und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Jo packte seinen Arm, um ihn vor einem Sturz zu bewahren. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Scham und Entsetzen.
„Ich habe für dieses Verbrechen tausendmal bezahlt“, sagte er und seine Stimme zitterte vor Emotionen. „Ich war in der Hölle … und ich bin immer noch in der Hölle wegen dieses Verbrechens.
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