Am Anfang eines neuen Tages
Roselles Enten bei dem kleinsten Geräusch sofort an zu schnattern und zu quaken, aber jetzt quakte überhaupt nichts.
„Otis, die Enten! Roselles Enten sind weg!“
„Glaubst du, sie hat sie zum Fluss gebracht, um sie freizulassen? Sie hat davon gesprochen.“
Lizzie verspürte einen Anflug von Hoffnung und zugleich eine Welle der Angst. „Den ganzen Weg bis zum Fluss? Woher sollte sie den Weg kennen? Sie war doch noch nie am Fluss, oder?“
„Nein, aber die Jungs. Ich gehe doch mit ihnen dort fischen. Ich laufe hin und sehe nach.“
„Warte! Ich will mitgehen.“
„Musst du dich nicht um Miz Eugenia und die Mädchen kümmern?“
„Sie sind mir egal, Otis! Wir müssen unsere Kinder finden!“
„Dann komm mit.“ Er nahm ihre Hand und führte sie auf dem unebenen schmalen Pfad durch den Wald und zum Fluss hinunter. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie dort waren. Lizzie wagte es nicht zu weinen, während sie den Blick auf den Trampelpfad gerichtet hatte und nach Steinen und Dornen und Ästen Ausschau hielt, die ihr im Weg waren. Auf dem ganzen Weg zum Fluss betete sie und sie wusste, dass Otis auch betete.
Sie hörte das rauschende Wasser, bevor sie es sah. Lizzie keuchte vor Anstrengung, hielt aber trotzdem die Luft an und lauschte, ob sie die Stimmen der Kinder oder das Quaken der Enten hörte. Doch als sie aus dem Wald ans Flussufer traten, war nirgends ein Lebenszeichen zu entdecken. Otis rief ihre Namen. Lauschte. Rief wieder. Lizzie fing an zu stöhnen und kämpfte gegen die aufsteigende Hysterie an. Otis zog sie in seine Arme und sie konnte sein Herz so heftig schlagen hören, als wollte es aus seiner Brust springen.
„Schhh … schhh …“, sagte er. „Herr, hilf uns! Zeig uns, was wir tun sollen …“
„Ich habe Angst, Otis! Ich habe solche Angst! Wenn ihnen etwas passiert ist ...“
„Ich weiß, ich weiß … Komm, wir gehen besser wieder zurück.“
So schnell sie konnten, liefen sie zurück zur Plantage. Jedes Mal, wenn sie kurz stehen blieben, um nach Luft zu schnappen, rief Otis die Namen der Kinder und lauschte dann. Im Wald herrschte schreckliches Schweigen. Am liebsten hätte Lizzie geschrien.
Als sie zurückkamen, war der Hof immer noch menschenleer. Lizzie konnte die Kuh im Stall hören, die gemolken werden wollte, und Miz Eugenias Glocke ertönte im Haus. „Was sollen wir machen?“, weinte sie.
„Du gehst besser rein und siehst nach, was die Weißen wollen. Vielleicht kannst du Missy Jo fragen, ob sie die Kinder gesehen hat. Ich gehe in den Wald und suche auf der anderen Seite, unten bei dem alten Baumhaus.“
Lizzie trocknete ihre Tränen und versuchte sich zu beruhigen, bevor sie ins Haus ging. Ihre Knie waren so schwach, dass sie kaum die Treppe zu Miz Eugenias Schlafzimmer hinaufkam. Die drei Frauen hatten ihr Abendessen längst beendet und das Tablett stand auf der Frisierkommode und wartete darauf, abgeräumt zu werden.
„Wo um alles in der Welt warst du?“, fragte Miz Eugenia. „Als du auf mein Läuten nicht reagiert hast, wollte ich schon Josephine schicken, um nach dir zu sehen.“
„E-es tut mir leid, Ma’am.“ Damit hatte Lizzie ihre Frage nicht beantwortet, aber wenn sie mehr zu sagen versucht hätte, wäre sie in Tränen ausgebrochen. Außerdem wollte Miz Eugenia mit Sicherheit nichts von Lizzies vermissten Kindern hören. Sie sah immer noch sehr schwach aus und war ganz grau im Gesicht, wie sie da in ihren Kissen lag. Es gab nichts, was sie oder die beiden Missys tun konnten, um ihr zu helfen.
„Bitte räum das Tablett ab, Lizzie. Und bleib in der Nähe, damit du die Glocke beim nächsten Mal hörst.“
„Ja, Ma’am.“
Otis war noch nicht von seiner Suche zurückgekehrt, als sie in die Küche kam. Sie sollte das Geschirr abwaschen und die Küche putzen. Die Kuh musste gemolken werden und die Hühner gefüttert. Sie und Otis hatten noch nicht zu Abend gegessen. Aber Lizzie war vor Angst so flau im Magen, dass sie nichts von alledem tun konnte. Sie stand in der Tür und blickte den Weg hinunter, während sie darauf wartete, dass Otis zurückkam.
Als sie ihn schließlich sah, war er allein.
Lizzies Knie gaben nach. Sie sank auf die Treppe und weinte.
Otis setzte sich neben sie und zog sie in seine Arme. „Ich bin den ganzen Weg bis nach Fairmont gerannt“, sagte er, noch immer völlig außer Atem. „Ich dachte, sie wären vielleicht zur Schule gegangen. Ich habe jeden, den ich unterwegs gesehen habe, gefragt, aber
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