Am Anfang eines neuen Tages
…“
„Was sollen wir denn jetzt machen, Otis? Was sollen wir machen?“ Er antwortete nicht. Sie wusste, dass er betete. Lizzie selbst war inzwischen zu aufgebracht, um klar zu denken, geschweige denn zu beten. Er würde für sie beide mit Gott reden müssen.
Eine sehr lange Zeit schien zu verstreichen, während sie zusammengekauert auf dem Boden saßen. Die Sonne war hinter den Baumwipfeln untergegangen. Bald würde es dunkel sein. Lizzie fühlte sich innerlich ganz leer und hohl, wie eine der Muscheln am Flussufer. Schließlich erhob Otis sich mühsam und zog Lizzie mit sich hoch.
„Ich muss die Kuh melken“, sagte er mit heiserer Stimme. Seine Augen waren rot und sein Gesicht von Tränen ganz nass.
„Ich komme mit. I-ich kann nicht alleine hierbleiben.“ Er nickte und ging in die Küche, um den Melkeimer zu holen. Lizzie umklammerte seine Hand, als sie gemeinsam zum Stall gingen. Sie stand in der Stalltür, während er arbeitete, und sah zu, wie er abwechselnd die Kuh melkte und auf den immer dunkler werdenden Weg hinausblickte. Als sie das schwache Weinen aus dem Wald dringen hörte, dachte Lizzie zuerst, sie hätte es sich eingebildet. Dann hörte sie es wieder.
„Otis, komm mal! Hör doch!“
Es war das Geräusch eines weinenden Kindes, das „Mama!“ rief.
Otis und sie rannten zusammen aus dem Stall und auf den Wald zu, immer dem Geräusch nach. Und dann – ein Wunder! Rufus kam auf sie zugelaufen und rief sie. Lizzie war als Erste bei ihm und schloss ihn in die Arme. Dann drückte sie ihn fest an sich und wiegte ihn hin und her.
„Danke, Herr … Danke, Herr!“, hauchte sie. „Oh, Rufus, mein Baby! Bist du in Ordnung?“ Er murmelte eine Antwort, schluchzte aber dabei so heftig, dass Lizzie ihn nicht verstehen konnte. Sie stellte ihn auf den Boden und kniete sich vor ihn hin. „Wo sind die anderen, Kleiner? Wo sind Jack und Roselle?“
„Die … die Männer h-haben sie noch.“
„Die Männer …?“ Sofort waren Lizzies Freude und Erleichterung wie weggeblasen.
Otis packte Rufus an den Schultern. „Rede mit uns, mein Sohn. Sag uns, was passiert ist.“
Seine Geschichte kam zwischen Tränen und Schluchzern in qualvoller Langsamkeit heraus. „W-wir haben Roselles Enten im Wald gehört … Sie sind unterm Zaun durch … Und sie hat … sie hat gesagt, Jack und ich sollen ihr helfen … ihr helfen, sie zu fangen. Wir sind immer dem Geräusch nachgegangen, Papa. Immer weiter in den Wald rein. Und dann … und dann haben die Männer uns gepackt!“
„Oh Gott, nein …“, stöhnte Lizzie.
„Was für Männer, Rufus?“
„Ich weiß nicht. Sie hatten Masken auf. Sie … sie hatten die Enten, aber es war nur ein Trick!“
„Wo sind die Männer jetzt?“, fragte Otis. „Haben sie Jack und Roselle immer noch? Wie konntest du dich befreien?“
„Sie … sie haben mich laufen lassen!“ Rufus fing an zu heulen und Otis nahm ihn in den Arm und wiegte ihn sanft.
„Schhh, mein Junge. Alles ist gut. Es ist gut. Sag mir, warum sie dich haben laufen lassen.“
„Weil … weil sie wollen, dass du und Mama kommt. Sie haben gesagt … gesagt, dass sie Jack und Roselle nach Hause lassen, wenn du und Mama kommt und mit ihnen redet.“
„Oh Gott!“, weinte Lizzie.
„Wo sind sie, mein Junge? Haben die Männer dir gesagt, wo wir sie treffen sollen?“
„Mhm … Sie haben gesagt … wo das Sklavenlager war.“
„Wir müssen gehen, Otis. Komm. Sie haben Roselle und Jack!“
Otis stellte Rufus auf den Boden und zog Lizzie näher. „Das ist eine Falle“, flüsterte er. „Sie werden uns alle schnappen.“
„Dann holen wir Hilfe. Wir suchen Saul und Robert und Willy und die anderen und holen sie zu Hilfe.“
„Wir wissen nicht, wo sie sind. Außerdem dürfen wir sie nicht in Gefahr bringen. Wenn wir mit so vielen kommen, werden die weißen Männer sagen, wir hätten sie zuerst angegriffen. Es wird so sein wie immer.“
„Aber … aber was sollen wir denn dann tun?“
„Ich weiß nicht, aber wir gehen erst mal in die Küche und geben dem Jungen was zu essen und sehen zu, dass er sich beruhigt. Während du das machst, werde ich beten. Vielleicht zeigt der Herr uns ja, was wir tun sollen. Vielleicht schickt er uns jemanden, der uns hilft.“
Auch wenn ihr Instinkt ihr sagte, sie sollte in den Wald rennen und ihre Kinder, ihre Babys retten, tat Lizzie, was Otis gesagt hatte. Sie machte Rufus ein Butterbrot, nahm ihn auf den Schoß und strich ihm über Gesicht und Haare, während
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