Am Anfang eines neuen Tages
verlegen auf Zehenspitzen in den Gottesdienst schlich, der längst begonnen hatte. Wie konnte sie für ihr Zuspätkommen dankbar sein? Jetzt war ihre Familie gezwungen, zwischen den unruhigen Flüsterern im hinteren Teil des Kirchenraumes Platz zu nehmen.
Jo versuchte immer noch, etwas zu finden, wofür sie dankbar sein konnte, als sie Emma Welch auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges entdeckte. Sie und Harrison waren so verliebt gewesen, als sie vor fünf Jahren ihre Verlobung bekannt gegeben hatten. Jo fragte sich, ob Emma wegen der gelösten Verlobung am Boden zerstört oder vielmehr erleichtert war. Während die eintönige Predigt im Hintergrund weiterging, wurde Jo bewusst, dass sich durch ihre späte Ankunft in der Kirche eine Gelegenheit für sie ergeben hatte, mit Emma zu sprechen. Wenn ihre Liebe zu Harrison neu entfacht werden könnte, würde Josephine vielleicht doch nicht zu den Blakes ziehen müssen. Sobald der Gottesdienst zu Ende war, schob Jo sich aus der Kirchenbank und durchquerte den vollen Mittelgang. „Hallo, Emma. Wie geht es dir?“ Von Nahem betrachtet sah Emmas Kleid genauso zerschlissen aus wie das von Josephine.
„Mir geht es gut. Und dir, Josephine?“
„Mir auch. Hör mal, kann ich kurz mit dir reden? Es ist wichtig.“ Jo wusste, dass sie ein paar Minuten übers Wetter und andere höfliche Themen plaudern sollte, anstatt alles sofort herauszuposaunen, aber sie war nicht sehr gut im Smalltalk, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter. Sie traten zur Seite, um den anderen Gemeindemitgliedern Platz zu machen, die in den Gang treten wollten, dann setzten sie sich in eine leere Kirchenbank.
„Mutter und ich waren neulich bei den Blakes“, fing Jo an.
„Oh, ich verstehe.“ Emma wandte den Blick ab und ließ ihn über die Menge schweifen, als wünschte sie, jemand würde sie rufen, damit sie eine Ausrede hatte, zu gehen. „Wie geht es Harrison?“, fragte sie.
„Er ist immer noch bettlägerig und braucht eine Menge Pflege.“
„Das tut mir leid. Hör mal, ich muss gehen. Wenn du mich bitte entschuldigst?“
„Warte. Ich habe gehört, dass ihr nicht mehr verlobt seid, aber Harrison ist so niedergeschlagen und du hast ihn doch einmal geliebt –“
„Bitte verlang nicht von mir, dass ich ihn besuche, Josephine. Ich gebe zu, dass ich es nicht gut ertragen kann, ihn so verkrüppelt zu sehen. Er war so groß und attraktiv, und jetzt … nun ja, seine Verletzungen sind so schlimm.“
„Aber steht in der Bibel nicht, dass die Liebe alles erträgt? Harrison ist immer noch derselbe Mann, egal ob er zwei Beine hat oder nur eins.“
„Du irrst dich. Er ist nicht mehr derselbe Mann. Der Harrison, den ich vor dem Krieg kannte, war freundlich und liebevoll und fröhlich. Der Mann, der aus dem Krieg zurückgekehrt ist, hat mit ihm keine Ähnlichkeit mehr.“
„Aber du hast ihn doch geliebt. Vielleicht, wenn du ihn noch ein bisschen länger pflegst und aufbaust –“
„Ich habe es versucht, Josephine. Ich habe ihm gesagt, dass seine Verletzung mir egal ist. Aber ich war nicht diejenige, die die Verlobung gelöst hat. Das war Harrison. Er hat gesagt, er wolle mich nicht heiraten, und hat mir befohlen, zu gehen. Er hat schreckliche Dinge gesagt – zum Beispiel, dass er mich nie richtig geliebt habe und … und ich will nicht wiederholen, was er alles gesagt hat. Er sagte, er würde nie in der Lage sein zu arbeiten und eine Frau und Kinder zu ernähren, und ich solle gehen und nie mehr wiederkommen.“
Josephine konnte sich gut vorstellen, dass er all diese Dinge gesagt hatte. Aber sie versuchte trotzdem, Emma weiter zu überreden, weil sie unbedingt vermeiden wollte, dass sie selbst sich um Harrison kümmern musste. „Kannst du ihm nicht noch eine letzte Chance geben? Früher oder später wird er aufhören, wütend zu sein, und vielleicht ist er dann wieder er selbst.“
„Es ist zu spät. Ich habe mich entschieden, die Werbung anderer Verehrer zuzulassen.“
„Aber wenn du ihn geliebt hast –“
„Hör zu, ich will das, was jede andere Frau auch will: einen Mann und ein Zuhause und Kinder.“
„Aber –“
„Hör auf, Josephine! Die Wahrheit ist … Harrison hat mir erzählt, dass er wegen seiner Verletzungen nie Kinder haben kann.“ Emmas Wangen hatten die Farbe von gekochter Roter Bete angenommen, und Jo spürte, wie auch ihre Wangen zu glühen begannen. Über solche Themen sprach man niemals.
„Ich habe eine verwitwete Tante in Norfolk“, sagte Emma und wandte den
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