Am Anfang eines neuen Tages
Blick wieder ab. „In ein paar Wochen ziehe ich dorthin, um ihr mit ihren Kindern zu helfen. In einer neuen Stadt, in der niemand weiß, dass ich verlobt war, gibt es mehr Gelegenheiten, Leute kennenzulernen.“
„Willst du dich nicht wenigstens von Harrison verabschieden, bevor du abreist?“ Vielleicht würde ein Besuch den Funken der Liebe oder Hoffnung wieder entfachen.
Aber Emma schüttelte den Kopf und erhob sich. „Es tut mir leid, Josephine.“
„Ich wünsche dir alles Gute für Norfolk“, rief Jo ihr nach, dann seufzte sie frustriert. Warum konnten andere Leute ein neues Leben anfangen, während sie hier festsaß wie eine Fliege hinter Glas? Sie stand auf und eilte den verlassenen Gang in die entgegengesetzte Richtung hinunter, um durch eine Seitentür aus der Kirche zu fliehen. Sie knallte die Tür hinter sich zu. „Dankbarkeit funktioniert nicht!“, sagte sie laut. „Ich habe nichts, wofür ich dankbar sein könnte!“
Sie stapfte über den Rasen vor der Kirche und ignorierte die plaudernden Grüppchen. Sie blieb erst stehen, als sie ihre Schwester Mary entdeckte. „Sag Mutter, dass ich nach Hause laufe“, rief sie ihr zu.
„Aber das ist zu weit! Deine Schuhe –“
„Wenn ich müde werde, halte ich an. Ihr könnt mich auf dem Weg aufsammeln.“ Josephines Schuhe waren tatsächlich ein Problem. Schließlich gehörten sie ihrer Mutter und waren viel zu klein. Aber Jo trug keine Strümpfe, also konnte sie die schmerzhaften Schuhe einfach abstreifen und barfuß gehen, wie eine Sklavin. Sie würde sich allerdings wieder hineinquetschen müssen, bevor ihre Familie sie einholte, sonst würde sie sich noch einen Vortrag anhören müssen.
Es war ein gutes Gefühl, allen zu entfliehen und allein zu sein. Vielleicht würde sie den ganzen Weg nach Hause laufen – nur dass sie nicht nach Hause ging, wie ihr in diesem Moment einfiel, sondern zu den Blakes. Und ihre Tasche war in der Kutsche. Ihr wurde das Herz schwer. Was um alles in der Welt sollte sie wegen Harrison unternehmen? Wenn sie ihn doch nur aus dem Bett bekommen und dazu bringen könnte, dass er die Arbeit auf der Plantage wieder aufnahm, dann könnte sie zurück nach Hause gehen.
Jo verdrängte Harrison aus ihren Gedanken und versuchte, für den sonnigen Tag und ein paar ungestörte Minuten dankbar zu sein. Aber als sie um eine Kurve bog, sah sie, dass sie nicht allein war. Ein junger Mann, so groß und dünn wie ein Laternenpfahl, ging langsam vor ihr die Straße hinunter, wobei er alle paar Meter stehen blieb, um einen Stein aufzuheben oder die blaue Blüte einer Wegwarte am Straßenrand zu pflücken.
Sie erkannte ihn erst, als sie näher kam und etwas von den buschigen Koteletten unter seinen Ohren hervorsprießen sah. Es war der Yankee aus dem Baumhaus. Wie hieß er noch? Mr Chandler, vom Amt für Freigelassene. Ihr kam der Gedanke, dass er Harrison vielleicht helfen könnte. Josephine blieb lange genug stehen, um ihre Schuhe wieder anzuziehen, dann rief sie: „Mr Chandler! Mr Chandler!“
Er fuhr herum, als wäre er überrascht, seinen Namen zu hören, und wartete, bis sie ihn eingeholt hatte. Zuerst schien er sie nicht zu erkennen. Doch dann grinste er und zeigte auf sie. „Ich weiß! Sie sind die junge Dame mit dem kaputten Schuh.“
„Ja.“ Wenigstens hatte er nicht ihre peinliche Tirade oder die Tränen erwähnt. „Ich brauche Ihren Rat, Mr Chandler.“
„Natürlich, Miss … Ich glaube, bei unserer letzten Begegnung habe ich Ihren Namen gar nicht erfahren.“
„Ich heiße Josephine Weatherly, auch wenn das nichts zur Sache tut. Meine Frage bezieht sich auf einen Nachbarn von mir, Harrison Blake. Seine Familie braucht Hilfe beim Wiederaufbau ihrer Plantage. Sie sagten doch, das sei der Zweck Ihrer Agentur, nicht wahr?“
Er nickte. „Ihr Freund kann gerne in mein Büro kommen und –“
„Das geht nicht. Mr Blake erholt sich noch von den Verletzungen, die er während des Krieges erlitten hat. Er ist verkrüppelt. Bettlägerig.“
„In dem Fall reite ich gerne zu ihm und spreche mit ihm. Wo wohnt er denn?“
„Wenn Sie diese Straße weiter geradeaus auf unsere Plantage zugehen, ist es die allererste Plantage auf der rechten Seite.“
„Wäre Mittwochmorgen ein guter Zeitpunkt für einen Besuch?“
„Mittwoch wäre gut. Danke.“
Jetzt, wo sie die Sache mit ihm geklärt hatte, wollte Josephine keine Minute länger mit dem Yankee reden. Sie wollte ihm gerade einen guten Tag wünschen, als er fragte:
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